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DFG-SONDER-                                       von den Hilfsorganisationen distanzierten und die
               FORSCHUNGSBEREICH 1482                            nach dem Krieg entstandenen Lebenswege vornehm-
               »HUMANDIFFEREN ZIE RUNG«                          lich durch ihre »eigenen« Leistungen erklärten. Das
                                                                 Projekt entwickelt einen Ansatz zur Erforschung des
                                                                 historischen Zusammenspiels von Mobilität und Zu-
               Das Berichtsjahr 2022 war das zweite Jahr des von   gehörigkeit weiter. Anknüpfend an das Theoriegerüst
               der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten   des SFB 1482 leistet es so einen Beitrag zu der grund-
               Sonderforschungsbereichs 1482 »Humandifferen-     legenden Frage nach den »Konjunkturen der Ent / diffe-
               zie rung« der JGU Mainz und des IEG. Im Mittelpunkt   renzierung« von Menschen mit Schwerpunkt auf der
               des Verbundprojekts steht die Forschungsfrage, wie   Herausbildung globaler Personenkategorien.
               historische und gegenwärtige Gesellschaften ihre
               Mit glieder kategorisieren, räumlich trennen und
               ihnen damit jeweils andere soziale Zugehörigkeiten   Teilprojekt C02 »Zoologische Humandifferenzierung.
               nahelegen. Humandifferenzierung soll als eine Form   Verhaltensforschung im Kontext von Dekolonisierung
               von kultureller Differenzierung expliziert und ihre   und wissenschaftlicher Disziplinbildung«
               Verbindung mit Formen sozialer und gesellschaft-  Bernhard Gißibl, Johannes Paulmann
               licher Differenzierung aufgeschlüsselt werden.
               Die vom IEG seit 2012 im Rahmen seines Forschungs-  Das Projekt, das im IEG innerhalb des Forschungs-
               programms zum »Umgang mit Differenz im Europa     bereichs zu Sakralisierung und Desakralisierung
               der Neuzeit« geleistete Arbeit geht damit in einen in-  angesiedelt ist (s. S. 27), untersucht das 1965 im ostaf-
               terdisziplinären kultur- und sozialwissenschaftlichen   rikanischen Tansania eingerichtete Serengeti Research
               Verbund ein. Beteiligt am SFB sind Wissenschaftlerin-  Institute, einem der wichtigsten Feldforschungsinsti-
               nen und Wissenschaftler aus der Geschichtswissen-  tute zur Untersuchung der Verhaltensökologie freile-
               schaft am IEG sowie aus der Soziologie und Ethnologie,   bender Wildtiere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-
               der Amerikanistik und Linguistik, der Theater-, Medien-  derts. Gefragt wird nach den Mensch-Tier-Begegnungen
               kultur- und Translationswissenschaft der JGU. Die vom   im Zentrum der verhaltens ökologischen Studien des
               IEG federführend eingebrachten Teilprojekte sind:  Forschungsinstituts, nach den sozialen Beziehungen
                                                                 am Institut im Kontext der postkolonialen Transfor-
                                                                 mation ehemals rassifizierender Differenzkategorien
               Teilprojekt B05 »Rechtlich­bürokratische          durch die »Afrikanisierung« des Personals am Institut,
               Humandifferenzierung in der Nachkriegszeit.       sowie nach humandifferenzierenden Konsequenzen der
               Von den ›Displaced Persons‹ zum ›Flüchtling‹ «    Einbindung der wissenschaftlichen Tierforschung in die
               Projektleitung: Anne Friedrichs, wissenschaft­    Governance-Strukturen des Nationalparks.
               liche Mitarbeiterin: Christina Wirth
               Laufzeit: 07 / 2021–06 / 2025, gefördert durch die
               Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)             Teilprojekt C03 »Pandemische Humandifferenzierung.
                                                                 Proxemischer Wandel bei viral irritierter Sozialität«
               Als die Alliierten am Ende des Zweiten Weltkriegs   Leitung: Johannes Paulmann, Stefan Hirschauer
               Mitteleuropa besetzten, fanden sie dort Millionen   wissenschaftliche Mitarbeitende: Aaron Hock,
               Menschen »out of place« vor: jüdische Überlebende,   Clara Terjung
               ehemalige Zwangsarbeiter:innen, Kriegsgefangene,
               aber auch Flüchtlinge vor der Roten Armee, darunter   Das Teilprojekt untersucht die Corona-Pandemie als Fall
               vormalige SS-Männer. Die Geschichte deren Selbst-   einer historisch wiederkehrenden Form der Human-
               und Fremdzuordnungen ist bis heute wichtig, da die   differenzierung. Es fokussiert drei Aspekte: die medi-
               »Dis placed Persons« (DP) Modell für die Entstehung   zinische Identifizierung und gesellschaftliche Imaginati-
               unseres heutigen Flüchtlingsbegriffs standen. Am   on eines viralen Mitspielers sozialer Beziehungen an den
               Beispiel des durch Migrationen geprägten Ruhrgebiets   Außengrenzen des Humanen; die prekäre Identifizie-
               untersucht das Projekt sowohl die sich verändernden   rung von Menschen als von diesem Mitspieler Infizierte
               Kategorisierungspraktiken der alliierten, britischen   oder Nicht-Infizierte; die auf das Identifizierungspro-
               und deutschen Behörden, als auch die langlebigen   blem reagierenden proxemischen Mikrostrukturen von
               Selbstverortungen von Menschen im Transit. In     Nähe und Distanz. In dem Projekt arbeiten Forscher und
               Reaktion auf deren Mehrfachzugehörigkeit, so lautet   Forscherinnen aus der Soziologie, der Geschichtswis-
               eine Hypothese des Projekts, weichte die britische   senschaft und der Kulturanthropologie zusammen. Sie
               Besatzungsverwaltung die internationale Kategorie   untersuchen mit diskursanalytischen und ethnografi-
               »Displaced Persons« zusehends auf. Umgekehrt trug   schen Methoden, wie sich die pandemische Gegenwart
               die erneute bürokratische Kategorisierung nach dem   in Geschichte verwandelt und pandemische Geschichte
               Holocaust dazu bei, dass die Schutzsuchenden sich   in der Gegenwart fortwirkt.


                                                                      IEG-Jahresbericht 2022 | Forschung       63
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