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LEIBNIZ-FORSCHUNGSVERBUND Projekt »Ethnographische Beziehungsdinge: Völker-
»WERT DER VERGANGENHEIT« – kundliche Sammlungen als Kristallisationspunkte
BEITRÄGE DES IEG kommunalen und (post)kolonialen Weltbezugs«
In interdisziplinären Perspektiven untersucht der Bernhard Gißibl
Forschungsverbund, wie mit der Vergangenheit
verbundene Werte hergestellt und vermittelt wer-
den. Erforscht wird – in deutscher, europäischer und Im Rahmen des Labs »Dynamische Räume« wurde
globaler Dimension – wie durch Sprache, Medialität im Jahr 2022 ein Konzept zum Thema »Gegenwärtige
und Digitalität historische Evidenz geprägt wird, Vergangenheit im Zeitalter globaler Krisen: Koloni-
wie Raum- und Zeitvorstellungen Geschichtsbilder ales Erbe vor Ort« erarbeitet. Darin geht es um eine
konturieren und wie die Ressource Vergangenheit für reflektierende Zusammenschau und vergleichende
Vergemeinschaftungsprozesse und Identitätskon- Einordnung der gegenwärtig in vielen Städten
flikte genutzt wird. Deutschlands verstärkten Auseinandersetzung mit
Das IEG bringt sich in die Research Labs des Verbunds dem kolonialen Erbe vor Ort. In einigen Städten
mit verschiedenen Projektbeiträgen ein. gehen die Initiativen von Universitäten oder Museen
aus. Vor allem aber sind es zivilgesellschaftliche, oft
migrantisch geprägte Initiativen, die durch koloniale
Spurensuchen und kolonialismuskritische Stadtfüh-
Research Hub 1 »Evidenzregime« rungen die sozialen Bezugsgruppen und räumlichen
Lab 1.1 Sprache, Performanz und Sinnwelt Bezugshorizonte städtischer Erinnerung hinter-
Projekt »Frühe ZeitZeugen: Erinnerung und Evidenz fragen, erweitern und dynamisieren.
in religiösen (Auto)Biografien der Frühen Neuzeit« Wie verhalten sich Wissenschaft und Aktivismus in
diesen Bestrebungen? In welchem Zusammenhang
Benedikt Brunner stehen diese städtischen Initiativen mit den globalen
Krisen (Klimakrise, Pandemie, Energiekrise, Infrage-
stellung demokratischer Ordnungen) der Gegenwart?
Das Projekt »Frühe Zeit-Zeugen: Erinnerung und Und in welchem Verhältnis stehen die in Deutschland
Evidenz in religiösen (Auto-)Biografien der Frühen bisher v. a. lokal geprägten Kolonialnarrative bei-
Neuzeit« untersucht den Wert der Erinnerung, wie er spielsweise zu den raumzeitlichen, eurozentrischen
in autobiografischen und biografischen Texten (z. B. Welt-Ordnungsansprüchen der Moderne wie Fort-
in Funeralschriften) evident gemacht werden sollte. schritt, Nation und Geschichte?
Diese Quellen scheinen besonders geeignet zu sein, Zur Diskussion dieser Fragen wurde in Kooperation
um ein differenziertes Verständnis für historische mit Heike Liebau (ZMO) und Sebastian Dorsch (Uni-
Praktiken des Bewertens, Umwertens, Aufwertens, versität Erfurt) ein Sektionsantrag für den Histori-
Entwertens und Verwertens von Vergangenheit zu kertag in Leipzig im September 2023 eingereicht und
gewinnen. Sie gehen einher mit der Sakralisierung angenommen.
von bestimmten Lebensentwürfen und der Desakrali-
sierung anderer Verhaltensweisen.
In diesen Quellen zeigt sich zudem, wie Vergangen-
heit als Ressource mobilisiert worden ist, um in zeit-
genössischen Debatten instrumentalisiert zu werden.
Ein interdisziplinäres Themenheft des Verbunds über
religiöse (Auto-) Biografien ist in Vorbereitung.
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