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IM FOKUS
MIGRATION UND VERGESELLSCHAFTUNG
JENSEITS DES NATIONALEN PARADIGMAS.
EINE RELATIONALE GESCHICHTE DER
»RUHRPOLEN« (1860–1950)
Anne Friedrichs wege. Wie das Projekt zeigt, loteten die Zugezogenen
Seit 2018 und ihre Nachkommen verschiedene biographische
Institutionelle und DFGFörderung Facetten situationsbezogen aus, durch die sie sich zu-
nächst kaum von anderen, überwiegend sesshaften
Frauen und Männern unterschieden. Das änderte sich
Anlässlich der Flucht von zahlreichen Menschen in erst, als sie aufgrund ihrer Herkunft nicht eindeutig
und nach Europa wird die Frage, ob Zugezogene Teil als zugehörig galten und sie u. a. mit Stigmatisierun-
der Gesellschaft sind oder bloß zeitweise Geduldete, gen, Willkür und Gewalt konfrontiert waren. Da-
wieder heftig diskutiert: Sollen die Ankommenden rauf aufbauend zeigt das Projekt, wie sich die Kluft
als Arbeitskräfte, Asylsuchende, Geflohene und zwischen den flexibel artikulierten Zugehörigkeiten
schutzbedürftige Jugendliche kategorisiert oder und der rechtlich-behördlichen Kategorisierung
unabhängig davon als Menschen wahrgenommen immer mehr vergrößerte – und das in einer Zeit, in
werden? Das Habilitationsprojekt will solche Kontro- der eine Deckungsgleichheit von Nation, Bevölkerung
versen historisch perspektivieren, indem es sich am und Staatsterritorium als erstrebenswert galt. Zwar
Beispiel der Geschichte der »Ruhrpolen« mit den sich eröffneten die Interaktionen innerhalb der Ruhrregi-
wandelnden Selbst- und Fremdzuordnungen von mo- on, zwischen Ost- und Westeuropa sowie innerhalb
bilen Menschen befasst. Damit setzt es sich mit dem der Imperien neue Mobilitätschancen für Angehörige
Mythos einer langfristigen Integration der »Polen« der sozialen Unter- und Mittelschichten. Doch waren
in Deutschland auseinander. Es blickt auf die her- diese Handlungsspielräume zumeist an die Bedin-
gestellten Differenzen und Zugehörigkeiten, Hierar- gung gebunden, sich einem einzigen Staat dauerhaft
chien und Netzwerke zwischen Arbeitsmigrant:innen, zuzuordnen und ältere Verbindungen zu verstecken
Abenteuersuchenden, Kriegsgefangenen, Zwangsar- und abzubrechen. Indem die Einzelnen diese Bezüge
beiter:innen, Geflüchteten, Vertriebenen und »Dis- auf verschiedene Weise aufrechterhielten, erweiter-
placed Persons« sowie deren Nachkommen. Nicht alle ten sie die Beziehungsgefüge des Rhein-Ruhr-Raums
blieben dauerhaft im Ruhrgebiet. Ein Teil zog Anfang und wirkten so langfristig an einer internationalen
der 1920er-Jahre weiter nach Nordfrankreich, andere Sichtbarkeit der Region mit.
kehrten in das 1919 gegründete Polen zurück. Insgesamt soll das Projekt zu einer Neukonzeptio-
Das Projekt untersucht, wie sich zum einen die Selbst- nalisierung von »Gesellschaft« als Analysebegriff
entwürfe und zum anderen die rechtlich-behörd- beitragen. Indem es Mobilität, Konflikte um Katego-
lichen Kategorisierungen in einem seit Langem durch risierungen und Mehrfachzugehörigkeit als konstitu-
Mobilität geprägten Wirtschaftsraum veränderten tive Elemente einbezieht, werden Gesellschaften als
und sich wechselseitig beeinflussten. Angesichts der vieldeutige, umstrittene und sich wandelnde Gebilde
sich überlagernden Migrations- und Deportationsbe- sichtbar. Außerdem sind sie durch die Mobilität von
wegungen brachten neue Verwaltungspraktiken und Menschen und Kategorien auf verschiedene Weise
Mittlerfiguren wie zweisprachige Polizisten wech- miteinander verschränkt und unterscheiden sich
selnde Kategorien hervor. Zugleich passten sie die etwa durch die Partizipationschancen von Zugezo-
allgemeinen Bezeichnungen »Polen« und »Masuren«, genen an ihrer Zuordnung.
»Displaced Persons« und »Vertriebene« an die Die Arbeit wurde im Dezember 2022 als Habilitations-
Verhält nisse im Ruhr-Bergbau an. Damit beeinflussten schrift an der Johannes Gutenberg-Universität einge-
sie auch die politischen Selbstentwürfe und Lebens- reicht.
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