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DIFFERENZ IM ALLTAG.                              BEWEGTE LEBEN.
               DIPLOMATIE ALS KOLLEKTIVE PRAXIS                  MOBILE IDENTITÄTEN UND
               IM FRÜHNEUZEITLICHEN ISTANBUL                     ZUGEHÖRIGKEITEN IM IBERISCHEN
                                                                 ATLANTIK (1570–1700)
               Florian Kühnel
               Seit 2022                                         Thomas Weller
               Institutionelle Förderung                         Seit 2018
                                                                 Institutionelle Förderung

               Um die herkömmliche binäre Gegenüberstellung
               von europäischer und osmanischer Diplomatie zu    Alle, die im 16. Jahrhundert von Spanien nach Ame-
               überwinden, fragt das Projekt nach der Rolle von   rika reisen wollten, mussten unter anderem nachwei-
               Differenz in der (vor allem englischen) alltäglichen   sen, dass sie selbst und ihre Vorfahren katholische
               Diplomatie im frühneuzeitlichen Istanbul. Ein solches   Christ:innen waren. Landesfremden war die Über-
               Vorgehen unterscheidet sich nicht nur von der klassi-  fahrt grundsätzlich verboten. In der Praxis gab es
               schen, an großen Staatsaktionen interessierten Diplo-  jedoch vielfältige Möglichkeiten, die obrigkeitlichen
               matiegeschichte, sondern auch von der jüngeren kul-  Bestimmungen zu umgehen. Davon zeugen Briefe
               turgeschichtlich orientierten Forschung. Zum einen   von Migrierenden an Angehörige im spanischen
               weitet das Projekt den Kreis der – sowohl männlichen   Mutterland (sogenannte cartas de llamada) und eine
               als auch weiblichen – Akteure massiv aus. Diplomatie   Vielzahl anderer Quellen. Anhand von ausgewählten
               wird damit nicht mehr länger als individuelle Leistung   transatlantischen Biographien fragt das Projekt nach
               einzelner »großer Männer«, sondern als »kollektive   dem Zusammenhang zwischen Mobilität und Zuge-
               Praxis« konzeptionalisiert. Zum anderen werden auf   hörigkeiten aus akteurszentrierter Perspektive. Auf
               Grundlage eines erweiterten Diplomatiebegriffs nicht   die obrigkeitlichen Migrationsregime reagierten die
               mehr in erster Linie Audienzen und andere höfische   Betroffenen häufig mit Praktiken der Dissimulation
               Zeremonien, sondern der Alltag frühneuzeitlicher   und Verstellung. Es soll untersucht werden, wie sich
               Diplomatie untersucht. Das betrifft etwa die adminis-  derartige Praktiken auf die »biographische Navigati-
               trativen Abläufe innerhalb der Botschaften, die   on« der Akteure und die Konstruktion von mobilen
               Kommunikation innerhalb des »diplomatischen       Identitäten und Zugehörigkeiten auswirkten.
               Milieus«, aber auch die Beschaffung von Informati-  Im Jahr 2022 wurde die Arbeit am Projekt wegen
               onen und Spionage. Ziel ist, hinter die stark rituali-  einer Lehrstuhlvertretung an der FAU Erlangen-Nürn-
               sierten Begegnungssituationen und die dort ausge-  berg unter brochen.
               fochtenen Symbolkonflikte zu blicken und auf diese
               Weise die (diplomatischen) Grenzen Europas neu
               zu vermessen.
               Im Jahr 2022 wurde die Arbeit an der Habilitations-
               schrift »Diplomatie als kollektive Praxis. Botschafts-
               sekretäre und diplomatischer Alltag im frühneuzeit-
               li chen Istanbul« abgeschlossen und diese im
               No vem ber an der Humboldt-Universität zu Berlin
               eingereicht.


























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