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DEN TOD INS LEBEN ZIEHEN. »MINHAG ITALIA«: VARIATIONEN DES
VERGLEICHENDE PERSPEKTIVEN AUF DEN JÜDISCHSEINS IM 19. JAHRHUNDERT
PROTESTANTISCHEN UMGANG MIT DEM IM SPIEGEL ITALIENISCHER GEBET-
TOD ZWISCHEN DESAKRALISIERUNG BÜCHER. EINE DIGITALE ANALYSE
UND RESAKRALISIERUNG (1580–1750)
Alessandro Grazi
Benedikt Brunner Seit 2018
Seit 2018 Institutionelle Förderung
Institutionelle Förderung sowie ergänzend
im LeibnizForschungsverbund
»Wert der Vergangenheit« (s. S. 60) Kann uns ein jüdisches Gebetbuch etwas über
die jü dische Gemeinschaft und über die Besitzer
sagen? Können wir es als historische Quelle nutzen?
Das Projekt analysiert die über Funeralschriften Ja, davon ist Alessandro Grazi durch sein Projekt
stattgefundene Vermittlung zentraler theologischer überzeugt.
Normen. Es nimmt dabei die konfessionskulturell Gebetbücher umfassen jeden Aspekt des jüdischen
unterschiedlich geprägten städtischen Kommunika- Lebens. Sie sind daher das pro Auflage am häufigsten
tionsräume Nürnberg, Basel, London und Boston in gedruckte Buch im Judentum. Trotz ihrer Prominenz
den Blick. Neben theologischen Inhalten wie dem haben die Gebetbücher dennoch kaum akademische
Gottesbild, der Prädestination sowie den Jenseitsvor- Aufmerksamkeit erhalten. Sie wurden als stabile Fak-
stellungen vermittelten die Funeralschriften Normen toren angesehen, ihre Dynamik der Analyse unwür-
darüber, wie der einzelne Mensch leben und sterben dig. Dabei behielten Gebetbücher zwar eine gewisse
sollte. Dahinter stand die auf Martin Luther zurück- Einheitlichkeit in Raum und Zeit bei, doch kleine
gehende Überzeugung, dass die Predigt am Grab Änderungen in den verschiedenen Ausgaben konn-
einer protestantischen Person nicht deren Verdienste ten die politische und kulturelle Wahrnehmung einer
in den Vordergrund stellen sollte. Statt dessen müsse bestimmten Ausprägung des Judentums in ihrem
sie der Gemeinde erklären, wie sich der Zusammen- jeweiligen Kontext wesentlich verändern.
hang von christlichem Leben und seligem Tod realisie- Mit Hilfe eines digitalen Ansatzes möchte das Projekt
ren lasse. diese Veränderungen analysieren und die Geschichte,
Benedikt Brunner fragt in vergleichender Perspektive die sie verbergen, interpretieren und erzählen.
nach Konvergenzen und Divergenzen in Bezug auf die 2018 und 2019 identifizierte Alessandro Grazi seinen
vermittelten Normen sowie auf deren Entwicklung in gesamten Quel lenkorpus in einem vielfältigen bib-
diachroner Perspektive. Prozesse der Sakralisierung liografischen Repertoire. Anschließend wählte er
und Desakralisierung spielen in dem Projekt keine Quellen aus und bereitete sie für die digitale Phase
zentrale Rolle. Allerdings hat der ihnen zugrundelie- des Projekts vor. 2020 startete die eigentliche digitale
gende Mechanismus einen hohen analytischen Wert Phase mit dem Hochladen, Transkribieren und Kor-
für die Frage, wie Normen sprachlich zu einem unver- rigieren der Texte auf der Online-Plattform E-Scrip-
fügbaren, unveränderlichen und ordnungsgebenden torium. 2021 wurden neue Transkriptionsmodelle
Phänomen gemacht werden. erstellt, um den vorliegenden Tex ten besser gerecht
Im Jahr 2022 wurde an der Verschriftlichung des zu werden.
Projekts weitergearbeitet. Die Arbeit soll im Som- 2022 begann die digitale Transkription des ausge-
mersemester 2023 als Habilitationsschrift der Evan- wählten Korpus und dessen Korrektur. Gleichzeitig
gelisch-Theologischen Fakultät in Mainz vorgelegt fing Alessandro Grazi die Verschriftlichung des Pro-
werden. jekts an.
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