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emanzipatorischen Kampf zu       turzeitschriften, die abgedruckt   Damaskus abgeschafft, weil sie
               nutzen, also in der Geschichte und   wurden und in denen sie schon   darin nicht ganz zu Unrecht einen
               im Islam nicht den Grund für Frau­  viele der Themen ansprach, die   Hort des kulturellen, panarabisch
               enfeindlichkeit zu sehen, sondern   sie ihr Leben lang beschäftigten.   motivierten Widerstandes sah.
               die Möglichkeit für eine zeitgemä­  Der Literaturbetrieb war ja damals   Das entpuppte sich als Glücksfall
               ße Neuinterpretation. Der Witz   fast komplett in männlicher Hand,   für die beiden: sie zogen nach
               liegt ja gerade darin, dass Widad   da war sie einerseits auf männli­  Kairo, das zu ihrer zweiten Heimat
               Sakakini den Harem des Prophe­   che Unterstützung angewiesen,    wurde. Dort tummelten sie sich
               ten – also einen zentralen Ort   andererseits schreckte sie nicht   im Kulturbetrieb und lernten alle
               islamischer Normierung von Ge­   davor zurück, die Platzhirsche   Größen der florierenden Litera­
               schlechterverhältnissen – nutzt,   offen zu kritisieren. 1935 etwa   turszene kennen. Widad erfuhr
               um die traditionellen Geschlech­  gewann sie den Preis für die beste   viel Zuspruch, so dass sie alsbald
               terrollen in Frage zu stellen.   Kurzgeschichte im Wettbewerb     ihre erste Kurzgeschichtensamm­
               Eine solche Intervention irritiert   einer renommierten Kulturzeit­  lung veröffentlichen konnte. Nach
               männliche Interpretationshoheit   schrift im Libanon. Als das Preis­  wenigen Jahren war sie in ver­
               und Herrschaftslegitimation. Sie   gericht mit 6:1 das Votum für ihre   schiedenen literarischen Genres
               läuft aber auch Gefahr, über diese   Geschichte abgegeben hatte, war   anerkannt: Literaturkritik, Kurzge­
               Irritation nicht hinauszukommen.   die Überraschung groß, als man   schichte, Roman, Essayistik. 1950
               Religionen tendieren nämlich     die anonymisierten Umschläge     publizierte sie ihren Essayband
               dazu, die Geschlechter­Asymme­   öffnete und entdeckte, dass eine   insaf al-mar’a, Gerechtigkeit für die
               trie und patriarchalische Struktu­  Frau gewonnen hatte. Der Heraus­  Frau, einen Meilenstein des arabi­
               ren als natürlich erscheinen zu las­  geber feierte sie dann zunächst   schen Feminismus, wie ich finde.
               sen. Aisha Abderrahmans Bücher   auch als großes Talent und neue
               voller Geschlechter­Stereotype   weibliche Stimme. Kurze Zeit     Das klingt fast schon nach Happy
               über streitsüchtige Frauen waren   später aber mokierte sie sich in   End.
               weit erfolgreicher: sie »passen«   einem Leserbrief an ihn darüber,   Na ja, ihre Geschichte endet hier
               besser zum traditionellen Narra­  dass es seiner Literaturzeitschrift   nicht. Mitte, Ende der 1960er-
               tiv. Widad Sakakini, die sich gegen   doch eigentlich unwürdig sei,   Jahren kehrte sie mit ihrem Mann
               dieses Narrativ und Abderrahm­   anonyme Leserbriefe abzudru­     zurück in dessen Heimatland
               ans Kritik an ihrem Werk wehrte,   cken, in denen sich die Verfasser –   Syrien, doch er starb bald darauf.
               galt vielen – in diesem Fall, aber   wahrscheinlich alte griesgrämige   Sie fühlte sich dann in Damaskus
               auch ganz generell – als streit­  Männer, wie sie vermutete – über   nicht sonderlich wertgeschätzt,
               süchtig: ihr wurde ausgerechnet   das angeblich niedrige literarische   publizierte nur noch wenig und
               das vermeintlich »weibliche«     Niveau in Damaskus auslassen     verbitterte. Der Preis mobilen Le­
               Stereotyp nachgesagt, gegen das   durften. Daraufhin verfasste    bens: Der persönliche und intellek­
               sie ankämpfte.                   derselbe Herausgeber eine lange   tuelle Reichtum, den sie an dem
                                                Tirade gegen sie und warf ihr vor,   einen Ort, Kairo, erfuhr, ging ihr
               Wie frau es macht, ist es nicht   sich, »typisch Frau«, von ihren   an dem anderen, Damaskus, fast
               richtig, oder?                   Emotionen mitreißen zu lassen,   völlig verloren.
               Ja, es kommt sogar noch hinzu,   was einer Schriftstellerin nicht
               dass etliche akademische Auto­   würdig sei. Deswegen hätte sie
               rinnen versucht haben, aus Aisha   fast die Feder zur Seite gelegt.  Weitere Informationen zu dieser
               Abderrahmans konservativen Wer­                                   Neuerscheinung finden Sie auf der
               ken irgendwie emanzipato rische   … was sie dann aber offenbar    nachfolgenden Seite.
               Ansätze herauszudestil lie ren. Die   nicht tat?
               Polemik mit Widad Sakakini, die   Ja, zu ihrem Glück wurde ihr
               Abderrahmans Werken vorausging,   Mann Zaki al­Mahasini, den sie
               dieser ganz Kontext ist bislang   gerade geheiratet hatte, vom
               nicht beachtet worden.           syrischen Staat ausgewählt, um
                                                seine Doktorarbeit in Arabischer
               Was hat Sie an Ihrer Protagonistin   Literatur an der Universität Kairo
               besonders beeindruckt?           zu schreiben. Die französische
               Ende der 1920er-Jahre verschickte   Kolonialbehörde hatte Anfang
               Widad Sakakini als taffe, junge   der 1930er-Jahren die eben ein­
               Frau, noch nicht einmal 20 Jahre   geführten Arabischstudien an
               alt, Texte an verschiedene Litera­  der neugegründeten Universität



                                                      IEG-Jahresbericht 2022 | Instituts veröffentlichungen  105
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