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IM FOKUS



               ARAB FEMINISM AND ISLAMIC HISTORY:

               THE TRANSNATIONAL LIFE AND WORK OF

               LEBANESE­SYRIAN WRITER WIDAD SAKAKINI






               Manfred Sing                     schein ba re Gegensätze wie Ost   immer schwieriger wurde, einen
                                                und West, Frauen und Männer aus­  adäquaten Ehemann zu finden,
                                                zubalancieren und zu versöhnen.   also einen, der die berufliche
               Die Frauen des Propheten Muham­  In dem nachfolgenden Interview   oder künstlerische Tätigkeit der
               mad als Rollenmodelle der Eman­  mit Manfred Sing zeigen sich noch   Ehefrau akzeptierte. Das spiegelt
               zipation? Manfred Sing sagt »ja«   weitere Ergebnisse und Erkennt­  sich in Widad Sakakinins Kurzge­
               in seiner neuen Pulikation »Arab   nisse, die er aus seiner Studie ge­  schichten wider, in denen Frauen
               Feminism and Islamic History.    wonnen hat.                      oftmals ein unglückliches Leben
               The Transnational Life and Work                                   führen: entweder sie geben ihr Ta­
               of Lebanese­Syrian Writer Widad   Interview mit Manfred Sing zur   lent auf oder opfern alles andere
               Sakakini (1913–1991)«. In ihr stellt   IEG-Neuerscheinung: Eine Biogra-  dafür. Das hatte einen realen Hin­
               er die Schriftstellerin Widad    phie über die arabische Feministin   tergrund. Bei vielen Frauenrecht­
               Sakakini vor, die seiner Meinung   Widad Sakakini                 lerinnen und Schriftstellerinnen
               nach als feministische Autorin                                    waren der Tod des Mannes, die
               lange übersehen wurde. Da bei    Was sehen Sie als Kernthese      Scheidung oder die eher seltene
               war sie eine Pionierin des ara bi­  Ihres Werkes?                 Entscheidung zur Ehelosigkeit
               schen Feminismus. Manfred Sing   Die Wissenschaft hat Widad Saka­  Voraussetzung des öffentlichen
               schließt jetzt mit seiner Stu die   kini als feministische Autorin fast   Engagements. Manche Autorin,
               (s. S. 106) diese Lücke. Fas ziniert   gänzlich übersehen. Zwar wird   die sich noch in jungen Jahren
               ist er von dem Bestreben der     sie als Pionierin für die arabische   radikal äußerte, ver stummte
               Autorin, in ihrem Werk immer     Kurzgeschichte anerkannt, nicht   nach der Hochzeit.
               wie der fem i nistische Ideen und   aber als Feministin. Im Gegenteil,
               islamische Geschichte in Einklang   eine literaturwissenschaftliche   Können Sie uns kurz erläutern,
               zu bringen. Die emanzipierte Frau   Arbeit über ihre Kurzgeschichten –   wie Sie zu dem Thema gekom-
               sei keine neue Idee. Rollenbilder   die einzige detailliertere Biogra­  men sind.
               der Emanzipation seien schon die   phie über sie in einer westlichen   Im Vorwort schreibe ich ja, dass
               Frauen und Töchter des Propheten   Sprache – zeichnet sogar das   dieses Buch zu jenen gehört, die
               Muhammad, also sein Harem.       Bild einer Frau, die immer wieder   eine etwas eigenartige Geschich­
               Für Widad Sakakini gab es keinen   frauenfeindliche Topoi aufgegrif­  te haben. Ich habe Anfang der
               Widerspruch, sich gleichzeitig als   fen habe und damit hinter den   2000er-Jahre in Syrien einiges
               Feministin und Muslima zu definie­  eigenen sozialkritischen Essays   Material zusammengetragen.
               ren – also eine »arabische Femi­  zu rückgeblieben sei. Ich sehe das   Es sollte eigentlich ein Teil der
               nistin« zu sein. Ihr Werk spie gelt   anders und habe versucht, eine   Dissertation werden, war aber
               nicht nur den Wandel der arabi­  umfassende Biographie zu schrei­  schon bald zu umfangreich dafür.
               schen Gesellschaften seit Beginn   ben und ihr Schaffen über die   Später wurde dann ein Aufsatz
               des 20. Jahrhunderts wider, son­  Genregrenzen hinweg zu betrach­  daraus. Trotzdem hatte ich immer
               dern insbesondere auch die sich   ten. Ich stelle ihre permanente   das Gefühl, dass es zu dem Thema
               verändernden Geschlech terrollen.  Beschäftigung mit Frauenthemen   noch mehr zu sagen gäbe. Dann
               Manfred Sings Auseinanderset­    ins Zentrum, zeige auch, wie sie   kamen drei Ereignisse zusammen:

               zung mit ihrem Leben und Wir ken   mit anderen arabischen Frauen   der Krieg in Syrien, Corona und die
               ist in heutigen Zeiten hoch re le­  vernetzt war. Es ist gewiss der   Digitalisierung. Der Krieg bestärk­
               vant. Während seiner Buchvorstel­  Feminismus einer Pioniergenera­  te mich darin, mich dem Thema
               lung auf der Mainzer Bücher messe   tion, ein Feminismus, der anders   wieder zuzuwenden, um über
               2022 stand er einem großen       aussieht als heutige Feminismen.   die Autorin eine andere Facette
               Pub likum gegenüber, das sehr    Aber ich denke, es ist wichtig,   Syriens zu zeigen. Weil wegen
               interessiert seinem Vortrag folgte.   das femi nistische Grundanliegen   Corona viele Archive nicht mehr
               Einem Vortrag, der gezeigt hat,   als Ausgangspunkt der Betrach­  erreichbar waren, war ich zudem
               dass man Widad Sakakini nicht    tung zu wählen. Meine These      motiviert, mich dem gesammelten
               auf eine spezifisch islamische   lautet, dass es seit Anfang des   Material wieder zuzuwenden. Und
               oder sy rische Identität reduzieren   20. Jahrhunderts mit der steigen­  schließlich entdeckte ich, dass
               kann. Sie strebte vielmehr danach,   den Bildung der Frauen für diese   in den letzten Jahren ziemlich



                                                      IEG-Jahresbericht 2022 | Instituts veröffentlichungen   103
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