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Wie kommt es, dass Sie als Mann   Das scheint jetzt nicht gerade eine
                                           über eine feministische Autorin   leichte Übung zu sein. Konnte sie
                                           schreiben?                       das überhaupt einlösen?
                                           Ich hoffe, diese Grenz über schrei -   Ja doch, es lag sogar auf der
                                             tung wird mir jetzt nicht als kultu­  Hand: Arabische Feministinnen
                                           relle Aneignung ausgelegt (lacht).   hatten sich grundsätzlich gegen
                                           Aber im Ernst: Ich halte es da mit   den Vorwurf zur Wehr zu setzen,
                                           Chimamanda Ngozi Adichie:        fremde, also europäische oder
                                           »We should all be feminists«. Ge­  westliche, Ideen aufzugreifen und
                                           schlechterverhältnisse und deren   damit die eigene Kultur zu verra­
                                           historischer Wandel sind zentrale   ten und weiter zu schwächen. Die
                                           politische, kulturelle und soziale As­  beste Verteidigung lag darin, zu
                                           pekte aller Gesellschaften. Die Kri­  sagen, dass die Emanzipation der
          Manfred Sing                     tik von Geschlechterverhältnissen   Frauen nicht nur die eigene Kultur
                                           ist immer auch Herrschaftskritik.  und Nation stärke, sondern auch
          viele ältere arabische Literatur­                                 schon in der eigenen Geschichte
          zeitschriften digitalisiert worden   Und wie kommt es, dass Sie am   angelegt war. In zwei Werken
          waren. Wo ich noch glaubte, fast   Institut für Europäische Geschich-  von 1947 und 1962 argumentierte
          alles Wichtige mühselig in Syrien   te (IEG) eine Biographie über eine   Widad Sakakini etwa, dass die
          zusammengeklaubt zu haben,       arabische Autorin geschrieben    Frauen und Töchter des Propheten
          stellte ich nun fest, dass ich viele   haben?                     Muhammad Rollenbilder für eine
          Aufsätze, die ich bislang gar nicht   Wir beschäftigen uns am IEG in   emanzipierte Lebensweise in der
          gekannt hatte, einfach per Maus­  Mainz generell mit der Frage, wie   Gegenwart waren.
          klick finden konnte. Das stachelte   Menschen ihre Differenzen – re­
          die alte Neugier am Thema neu an.  ligiöse, politische, kulturelle, ge­  Gab das keinen Gegenwind?
                                           schlechtliche und so weiter – ver­  Doch, aber nicht primär von Män­
          Im Untertitel ist auch von einem   handeln und betrachten auch den   nern, wie man vielleicht denken
          »transnationalen Leben« die Rede.   Transfer europäischer Ideen und   könnte, sondern von einer Frau:
          Können Sie das erläutern?        kulturelle Verflechtungen. Konkret   von Aisha Abderrahman, die
          Ich wende mich gegen einen       interessierte mich, wie Widad Saka­  später eine anerkannte Theologin
          methodischen Nationalismus, be­  kini feministische Ideen aufgriff,   werden und selbst zahlreiche Bü­
          trachte Sakakinis Leben und Werk   diese in der islamischen Geschichte   cher über frühislamische Frauen
          unter einer mobilen Perspektive:   verwurzelte und in Kurzgeschich­  verfassen sollte. Sie warf Widad
          Widad Sakakini stammte aus dem   ten oder Romanen ausdrückte.     Sakakini vor, unhistorisch zu argu­
          Libanon, heiratete einen syrischen                                mentieren, reduzierte selbst aber
          Mann, lebte die produktivste und   Worin sehen Sie hier den beson-  die Frauen auf Eifersüchteleien
          »glücklichste« Zeit ihres Lebens,   deren Reiz?                   und Ränkeschmiede. In meinem
          wie sie selber schrieb, in Ägypten   Hierzu muss man wissen, dass es   Buch zeichne ich die Polemik
          und publizierte in zahlreichen Zeit­  nicht nur recht neu war, dass Frau­  zwischen den beiden Frauen
          schriften von Ägypten bis Kuwait.   en selbst feministische Anliegen   detailliert nach. Widad Sakakini
          In Lexika wird sie oft entweder als   literarisch artikulierten, sondern   versuchte, die Frauen als relativ
          Libanesin oder Syrerin geführt, in   auch, dass das Schreiben von   eigenständige Figuren darzustel­
          einer neuen wissenschaftlichen   Kurzgeschichten und Romanen      len, die sich aktiv in politische,
          Anthologie wird ein Teil ihrer   erst im Entstehen begriffen war. In   kulturelle, religiöse und soziale
          Werke unter der Rubrik »Liba­    diesem Sinne war Widad Sakakini   Belange einmischten und dem Pro­
          non«, ein anderer unter »Syrien«   sowohl inhaltlich als auch formal   pheten nicht bloß auf die Nerven
          besprochen. Eine Weggefährtin    eine Pionierin. Besonders reizvoll   gingen, wie es ihre Kritikerin dar­
          schrieb ihrem Werk den Duft des   erscheint mir, dass sie danach   stellte, sondern ihn in schwierigen
          Libanon, die Tiefe Syriens und   strebte, feministische Ideen und   Fragen auch berieten.
          die Empfindsamkeit Ägyptens zu.   islamische Geschichte in Einklang
          Solche Zuschreibungen und Klas­  zu bringen, so wie sie überhaupt   Artikulierte sie damit etwas
          sifizierungen verfehlen natürlich   versuchte, vermeintliche Gegen­  Neues? Und wenn ja, war sie
          den mobilen und grenzüberschrei­  sätze wie Mann und Frau, Femi­  damit erfolgreich?
          tenden Aspekt ihres Lebens und   nismus und Nationalismus, Orient   Jein. Es lag durchaus im Trend, die
          Schreibens, auch in einem übertra­  und Okzident, Vernunft und    arabisch­islamische Geschichte
          genen Sinne.                     Spiritualität auszusöhnen.       als kulturelle Ressource für den



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