Aus fernen Katastrophen lernen? Zur grenzüberschreitenden medialen Verarbeitung extremer Naturereignisse im vormodernen Europa
Das Forschungsvorhaben untersucht die mediale Verarbeitung extremer Naturereignisse als grenzüberschreitende Reflexions- und Mobilisierungsmomente im (West-) Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Anstatt auf einzelne Extremereignisse (mit der Klimax des Erdbebens von Lissabon 1755) zu fokussieren, wie es in der historischen Katastrophenforschung gängig ist, will das Projekt die längerfristige Formation und Transformation von Katastrophendiskursen über territoriale und sprachliche Grenzen hinweg aufzeigen. Untersucht werden Druckwerke in deutscher, englischer, französischer, italienischer und lateinscher Sprache, die extreme Naturereignisse (Erdbeben sowie Hochwasser / Überschwemmungen) in den jeweils anderen Ländern bzw. Sprachräumen textuell und visuell behandeln. Durch solche medial hergestellten societal teleconnections entstand, so die Hypothese, eine frühneuzeitliche European media culture of disaster.In diesem sprach- und grenzüberschreitenden Untersuchungsrahmen lassen sich grundlegende Fragen der historischen Katastrophenforschung neu stellen: Wo und wie bewirkten katastrophale Naturereignisse Identifikationen und Interaktionen über Standes-, Gender- und Konfessionsgrenzen hinweg, und inwiefern befestigten sie bestehende gesellschaftliche Differenzierungen? In diesen Interaktionen wurden ferner Wissensregimes – über Mensch, Kosmos und Gott – aktiviert und neu konfiguriert. Die Katastrophenberichte kommentierten auch konkrete Maßnahmen, wie akute Krisen im hier und jetzt zu bewältigen seien; inwieweit verschoben und erweiterten sie zugleich religiös konfigurierte Deutungsrahmen zur Bewältigung von Kontingenz?
Aus der Perspektive der Berichterstattenden und der Betroffenen lassen sich diese grenzüberschreitende Katastrophendiskurse analytisch in vier Schritte gliedern:
1. Diagnosen: Wem widerfährt welches Unglück, wie wird das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mensch sowie Mensch und Natur gestört?
2. Ursachen: Wer trägt die Verantwortung für die Katastrophe, wer sind die Handelnden (Gott – der Mensch – die Natur)?
3. Konsequenzen: Wie soll die durch die Katastrophe bedrohte und häufig gestörte Stände- und Geschlechter-Ordnung – durch symbolische Handlungen, religiöse Praktiken und organisatorische Maßnahmen – wiederhergestellt werden?
4. Fernwirkungen: Wie wirkt sich die Katastrophe auf die Wahrnehmung von Welt bzw. die (diskursiv konstruierte) Beziehung zwischen Mensch und »Natur« aus? Inwieweit wird Natur durch Rationalisierung und Äthetisierung (de- und re-) sakralisiert?
Methodisch will das Projekt exemplarisch die Erkenntnispotentiale und Grenzen einer computergestützten mehrsprachigen Text- und Bildanalyse erproben. Das digitale Corpus soll mit Ansätzen der Intertextualität und Intervisualität auf bewusste und nicht-intentionale Relationen (Textwiederverwendungen, parallele Neuschöpfungen, Abwandlungen von Topoi etc.) untersucht werden. Indem so das Spektrum zwischen Wiedergebrauch und »Originalität« im grenzüberschreitenden Katastrophendiskurs vermessen werden wird, ist zugleich mit Blick auf die Zielpublika zu fragen, inwieweit die Berichte und die sie begleitenden Kupferstiche im Spiegel der fernen Katastrophe zugleich Probleme »vor der eigenen Haustür« verhandeln, und inwieweit sie die Imaginationen der »fremden« Gesellschaft, in der die Katastrophe passiert, verändern.
Das Forschungsvorhaben greift Fragestellungen aus den Arbeitsbereichen Gesellschaft, Religion und Digitalität auf. Es wurde 2024 in Grundzügen konzipiert und soll nach Joachim Bergers Abordnung an das Germanische Nationalmuseum Nürnberg (2025–2027) am IEG wiederaufgenommen werden.
Bildangaben und -rechte: (unbek. Künstler:in) Terrae Ruinate Dal Terremoto Nella Provincia Di Puglia. Die zerfallne erd', durch den Erdbidem, in der landschafft Puglia. Kupferstich bei: Giovanni Valentino Poardi, Relatio Historica, Terrae Motus Horribilis, Qui In Regno Neapolitano, Provinciae Apuliae, 30. Iulii Anni M.DC.XXVII. Die Veneris Factus […]. – Relation, Von dem grossen schröcklichen Erdbidem/ der sich im Königreich Napleß/ in der Landschafft Puglia den 30. Julii 1627. an einem Freytag begeben, Augsburg [1627]. München, Bayerische Staatsbibliothek: Einbl. V,8 ir. VD17 12:668864N, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00102766-9.