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Forschungsprogramm (2012–2017)

Forschungsprogramm "Umgang mit Differenz im Europa der Neuzeit": 1. Phase (2012-2017)

 

Das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) erforscht die historischen Grundlagen Europas in der Neuzeit. Seine Forschungen werden interdisziplinär von der Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte und der Abteilung für Universalgeschichte entwickelt. Sie reichen epochenübergreifend vom Beginn der Neuzeit bis in die Zeitgeschichte. Europa wird in grenzüberschreitender Perspektive als ein Kommunikationsraum untersucht, dessen Binnen- und Außengrenzen durch vielfältige transkulturelle Prozesse immer wieder neu geprägt wurden.

Das Leitthema des Forschungsprogramms am IEG ist der Umgang mit Differenz im Europa der Neuzeit – die Formen der Etablierung, Bewältigung und Ermöglichung von Differenz in ihren religiösen, kulturellen, politischen und sozialen Dimensionen. Europa wird als ein Laboratorium für die Entwicklung von Formen der Regulierung und Begrenzung, aber auch der Herstellung und Bewahrung von Andersartigkeit und Ungleichheit aufgefasst. Die konfliktreiche Dynamik des Raums »Europa« rührt aus den vielfältigen Interaktionen und Verstrickungen, die zu Austausch, Aneignung und Integration sowie zu Abgrenzung und Konfrontation auf dem Kontinent und jenseits seiner Grenzen führten.

Die folgenden Forschungsperspektiven besitzen besondere Bedeutung für die Entwicklung Europas:

  • die Untersuchung des Selbstverständnisses religiös orientierter, politischer und gesellschaftlicher Akteure und ihrer grundlegenden Orientierung, mit der sie Differenzen universalistisch zu überspannen, partikularistisch zu betonen oder kosmopolitisch zu überwinden trachteten;
  • die Analyse der historischen Handlungspraxis im Umgang mit Differenz anhand zentraler Leitvorstellungen wie dem Streben nach Einheit, der Duldung oder der Toleranz;
  • die Erforschung grundlegender Bedingungen für die Herstellung und den Erhalt von Differenz zwischen Gruppen, Nationen und Institutionen sowie von Europa als Ganzem.

Diese aus der historischen Erfahrung Europas gewonnenen Perspektiven liegen dem Forschungsprogramm des IEG zugrunde. Es gliedert sich in drei Forschungsbereiche sowie einen Querschnittsbereich. Die Forschungsbereiche ergänzen sich chronologisch und thematisch. Sie konkretisieren die gemeinsamen Forschungsperspektiven in der Konzentration auf exemplarische Segmente und wenden sie jeweils schwerpunktmäßig nach Gegenstand und Epoche an. Ihre zentralen Themen sind erstens Konflikte und Konsenssuche im Rahmen der religiösen Differenzierungen und der Entwicklung moderner Staatlichkeit (Forschungsbereich 1). Zweitens werden humanitäre Vorstellungen und Praktiken analysiert, die nicht auf einer vorgegebenen Identität der Menschen, sondern wesentlich auf der Erfahrung von zunehmender Differenzierung beruhten (Forschungsbereich 2). Drittens steht kulturelle Souveränität als Verhaltens- und Denkmuster im Mittelpunkt, mit deren Hilfe soziale, politische und religiöse Gruppen und Einrichtungen, aber auch einzelne Gesellschaften und Europa als Ganzes ihre Unterschiedlichkeit langfristig zu behaupten suchten (Forschungsbereich 3).

Systematisch behandeln die Forschungsbereiche somit die paradoxe Etablierung, die ambivalente Bewältigung und die konflikthafte Ermöglichung von Differenz in der europäischen Neuzeit. In der longue durée wird untersucht, wie sich die Bedeutung der religiös-konfessionellen, politischen und sozialen Dimensionen von Differenz und ihr Wechselverhältnis in Europa wandelten. Die geschichtswissenschaftliche, theologie- und religionsgeschichtliche Analyse des europäischen Umgangs mit Andersartigkeit und Ungleichheiten ist durch gemeinsame Fragestellungen strukturiert, welche die Forschungsbereiche übergreifen und von der frühen Neuzeit bis in die Zeitgeschichte verfolgt werden:

  1. Wie veränderten sich Bedeutungsgehalt, Konstruktion und Wirkung von Schlüsselbegriffen, mit denen Differenz überbrückt werden sollte? Zentrale Vorstellungen hierbei waren Christianitas, Menschheit, Kosmopolitismus und Ökumene.
  2. Wie wirkte sich die funktionale Differenzierung in der Neuzeit auf die Entstehung und Bewältigung von Differenzen aus? Ausgehend von einem Verständnis, das diesen Prozess als partiell, kontingent, nicht linear und verschiedenen Konjunkturen unterworfen begreift, steht die funktionale Differenzierung am Beispiel der Transformation der Verflechtungen von Politik und Religion sowie von Gesellschaft und Religion im Mittelpunkt.
  3. Welche Bedeutung besaßen die vieldeutigen Grenzen und Grenzüberschreitungen für den Umgang mit Differenz? Untersucht werden sowohl die Entwicklung innereuropäischer Grenzziehungen als auch diejenigen zwischen »Europa« und anderen Teilen der Welt. Ein besonderes Augenmerk gilt den Netzwerken des Austauschs und den konfliktreichen Verstrickungen.

Diese gemeinsamen Fragestellungen werden aus der Kooperation zwischen den Forschungsbereichen in Querschnittsprojekten weiterentwickelt und zusammengeführt. Unter Beteiligung aller Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IEG entsteht eine zentrale Publikation zum Umgang mit Differenz im »Laboratorium Europa«. Sie wird die gemeinsamen Fragestellungen des Forschungsprogramms des IEG exemplarisch abbilden, grundlegende Informationen zum Umgang mit Differenz in Europa im Open Access bereitstellen und die Forschungsperspektiven des IEG in eine breite Öffentlichkeit vermitteln. Flankierend werden die zentralen Forschungsperspektiven in Form von Kolloquien und Workshops zur Diskussion gestellt, die aus den Forschungsbereichen heraus organisiert werden und den Umgang mit Differenz in epochenübergreifender oder epochenspezifischer Perspektive behandeln.

Zudem ist im Querschnittsbereich das Publikationsprojekt »EGO | Europäische Geschichte Online« angesiedelt. Im Open Access entwickelt EGO eine Geschichte Europas, die trans- und interkulturelle Beziehungen in den Blick nimmt. EGO analysiert Europa als einen stets in Wandlung befindlichen Kommunikationsraum, in dem vielgestaltige Prozesse der Interaktion, Zirkulation, Überschneidung und Verflechtung, des Austauschs und Transfers, aber auch von Konfrontation, Abwehr und Abgrenzung stattfanden. Die europäische Geschichte der Neuzeit wird über Länder-, Fach- und Methodengrenzen hinweg erschlossen.