Ermöglichung von Differenz
Ermöglichung von Differenz: Artikulationen, Formen und Kontexte kultureller Souveränität im 20. Jahrhundert
Die Forschungsprojekte zum 20. Jahrhundert bearbeiten das Leitthema des Umgangs mit Andersartigkeit und Ungleichheit, indem sie Diskurse und Praktiken kultureller Souveränität analysieren. Mit kultureller Souveränität sollen Formen und Strategien der Selbstartikulation erfasst werden, mit denen Individuen, Religionsgemeinschaften, soziale und ethnische Gruppen, aber auch nationalstaatlich verfasste Kollektive ihre Unterschiedlichkeit entwarfen. Der Souveränitätsbegriff wird aus seiner engen Bezogenheit auf den Staat gelöst und der Analyse von Denk- und Handlungsmustern kultureller Selbstdefinition zugänglich gemacht. Diese überschritten, unterliefen und relativierten in zunehmendem Maße nationalstaatliche Grenzziehungen. Untersucht werden soll, inwiefern Formen der kulturellen Souveränität mit Identitäts- und Alteritätskonstruktionen einhergingen, welche die Anerkennung und Toleranz von Differenz ebenso beinhalteten wie Versuche zur strategischen Ausgrenzung, Marginalisierung oder gar vollständigen Auslöschung von Andersartigkeit.
Diskurse und Praktiken kultureller Selbstbestimmung sind nicht erst ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl entwickelten sie erst in diesem Jahrhundert eine einzigartige Dynamik und Relevanz: Zum einen setzten sich die hergebrachten Konflikte zwischen staatlichen und religiösen Souveränitätsansprüchen innerhalb der Staaten Europas ins 20. Jahrhundert hinein fort. Während die christlichen Kirchen weiterhin ihren Deutungs- und Regelungsanspruch für das gesellschaftliche und politische Leben zu behaupten versuchten, entstanden durch Migrationsströme nach Europa wie auch im Rahmen der Kolonialherrschaft in Übersee neue Konfliktfelder zwischen staatlichen Ansprüchen und nicht-christlichen religiösen Lebenswelten. Zum anderen brachte das 20. Jahrhundert die Durchsetzung des Nationalstaatsmodells als verbindlicher Organisationsform politischer Gemeinwesen weltweit. Die das 20. Jahrhundert prägenden Krisenerfahrungen zweier Weltkriege und der Auflösung der europäischen Kolonialreiche fungierten als Triebkräfte beschleunigter Nationalstaatsbildung, hinterließen gleichzeitig aber eine schwere Hypothek in Form von willkürlichen Grenzziehungen, fragmentierten Gesellschaften und fragiler staatlicher Legitimität. Parallel dazu bedeuteten Prozesse suprastaatlicher Integration, internationale Organisationen sowie die Ausbildung grenzüberschreitender Kommunikations- und Governance-Strukturen neuartige Herausforderungen für Vorstellungen und Praktiken staatlicher Souveränität. Im Kontext dieser Entwicklungen eignete sich das Kulturelle – ganz gleich, ob universal oder partikular, säkular oder religiös, elitär oder populär verstanden – besonders auch für nicht-staatliche Akteure, um Differenzen zu markieren und zu überhöhen, aber auch zu transzendieren. Kultur, in all ihren Ausprägungen, firmierte im 20. Jahrhundert nicht mehr nur als Ressource staatlicher Souveränität. Sie wurde in Form von aktiver Propaganda wie auch als informelle ›soft power‹ in neuartiger Weise strategisch eingesetzt. Zudem wurde vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Selbstdefinition durch Kultur als politische Ressource genutzt, als Menschenrecht reklamiert, aber auch wissenschaftlich reflektiert.
Dem Forschungsbereich liegt somit ein breites Verständnis der Zeitgeschichte zugrunde, das den Zeitraum von der Auflösung europäischer Imperien seit dem Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Kalten Krieges umfasst. Die einzelnen Projekte untersuchen die grenzüberschreitenden Mechanismen, Ideen, Institutionen, Medien, Netzwerke und Praktiken kultureller Selbstartikulation und fragen nach dem spannungsreichen Verhältnis zwischen verschiedenen Formen kultureller Souveränität und kosmopolitischen Orientierungen. Ein besonderes Augenmerk gilt Prozessen der Europäisierung in ihren säkularen und religiösen Kontexten.
Die Arbeit im Forschungsbereich gliedert sich in die folgenden Module:
1. Ordnungsentwürfe und Deutungsmacht
Das Modul vereint ein Interesse an diskursiven Aushandlungsprozessen und der Übertragung und Grenzüberschreitung von Deutungs-und Handlungsmacht. Es umfasst ein Projekt zur Erfahrung, Bewältigung und Planung industriellen Lebens in der Tschechoslowakei (Gregor Feindt) sowie eines zu Religionsbegriffen und Religionskritik bei arabischen Säkularisten und ihren Gegnern (Manfred Sing). Die Forschungen teilen ein gemeinsames Interesse an den Semantiken und Auseinandersetzungen um die Deutungsmacht zentraler Begriffe der politisch-religiösen Sprache, wie »Arbeit«, »Religion« oder »Versöhnung«. Letztere steht im Zentrum eines Projekts, das sich mit katholischen Diskursen in Deutschland, Frankreich und Polenüber »Versöhnung« nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt (Urszula Pękala). Daraus hervorgegangen ist überdies ein am IEG koordiniertes, internationales und interdisziplinäres Netzwerk, das die Zusammenhänge religiöser und politischer Faktoren im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess analysiert (2014–2016, Förderung: Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung). Hinzu kommt das DFG-geförderte Forschungsprojekt zu christlichen Intellektuellennetzwerken in Großbritannien in den 1930er- und 1940er-Jahren (John Wood; 2012–2016).
a) Vom Sinn der Arbeit. Erfahrung, Bewältigung und Planung industriellen Lebens in der Tschechoslowakei
b) Religionsbegriffe und Religionskritik bei arabischen Säkularisten und ihren Gegnern
c) Versöhnung als theologisch-politischer Diskurs nach dem Zweiten Weltkrieg: Deutschland, Frankreich und Polen im Vergleich
d) Christliche Ordnungsentwürfe in Großbritannien als Reaktion auf die europäischen Krisen der Zwischenkriegszeit
Indem das Graduiertenkolleg »Die christlichen Kirchen vor der Herausforderung ›Europa‹« (IEG und JGU Mainz) seinen Blick auf die Kirchen richtet, erweitert es die politische Perspektive, um die Spannungen zu analysieren zwischen dem säkularen Entwurf »Europäische Einigung« und dem Anspruch der Kirchen, sich in diesem Prozess zu behaupten und ihm ihre Werte einzuschreiben. Betrachtet werden die Reaktionen auf den Europäischen Einigungsprozess sowie die Rückwirkungen und Aktivitäten, die er auf kirchlichem Gebiet in Gang setzte. Zudem nimmt das Graduiertenkolleg die Bemühungen der Kirchen in den Blick, religiöse Wertvorstellungen in die politischen Prozesse einzubringen. Dies vollzog sich vor dem Hintergrund der krisenhaften Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, des Holocaust und der Totalitarismen, aber auch des fortschreitenden Zusammenbruchs der europäischen Kolonialreiche. Das Forschungsprogramm mit den darauf bezogenen Dissertationen gliedert sich in drei Schwerpunkte:
a) Die Kirchen und der Europadiskurs – kirchliche Positionierungen in der Zwischenkriegszeit und seit dem Zweiten Weltkrieg
b) Öffentlichkeit und Handlungsräume: Wege – Medien – Akteure
c) Kirche und gesellschaftliche Verantwortung in Europa und in der Welt: Werte und ethische Konzeptionen
Die Forschungsschwerpunkte sind so angelegt, dass sie die spezifischen Fragestellungen und methodischen Zugänge der am Graduiertenkolleg beteiligten Disziplinen integrieren. Der erste Zugang nimmt die institutionelle Ebene der europäischen Kirchen und kirchlicher/kirchennaher Organisationen in den Blick. Zunächst wird nach den Verlautbarungen aus Kirchenkreisen in der Zeit von 1890 bis zum Zweiten Weltkrieg gefragt und dabei auch die Instrumentalisierung von Kirchen bzw. Kirchenrepräsentanten durch die Europa-Bewegung thematisiert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand dann als Reaktion auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus auch in den Kirchen ein auf europäische Vernetzungen zielendes pazifistisches Potential, das mit den politischen Integrationsbemühungen in Interferenz treten konnte, aber nicht musste. Der zweite Schwerpunkt stellt dem auf die Kirchen als Institutionen gerichteten Fokus die Perspektive auf die kirchennahen Organisationen und Entscheidungsträger zur Seite, die in die Öffentlichkeit hineinwirkten und deren Meinungsbildung entscheidend mitgestalteten. Somit kann der Frage nachgegangen werden, wie kirchenamtliche oder -offiziöse Positionen zustimmend, kritisch ablehnend oder modifizierend aufgenommen wurden. Dies wird drittens ergänzt durch den Aspekt der globalen Ausstrahlung und Wirkung, die die kirchlichen Perspektiven auf Europa hervorbrachten. Dass diese sich insbesondere auf dem Feld der Werte-Diskussion und der ethischen Konzeptionen für ein zusammenwachsendes Europa konzentrieren würden, liegt auf der Hand, zumal die kirchliche Kompetenz für Europa auch im Selbstverständnis der Kirchen nicht primär auf politischem, sondern weit stärker auf dem Feld sozialethischer Fragestellungen angesiedelt war und ist.
3. Krisenerfahrungen und Kosmopolitismus
Modul 3 bündelt Projekte, die sich mit der Ermöglichung von Differenz anhand der Analyse kosmopolitischer Ordnungen, Praktiken und Mobilitäten auseinandersetzen. Untersucht werden die kosmopolitische Praxis von Auslandskorrespondenten in Rundfunk und Fernsehen in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs sowie die Handlungspotenziale und Selbstinszenierungen in den transatlantischen Lebensläufen revolutionärer Migrantinnen und Migranten nach 1848/49 (Sarah Panter). Aus dem Projekt zur Auslandsberichterstattung (Bernhard Gißibl) ging weiterhin eine Veranstaltungsreihe mit öffentlichen Podiumsdiskussionen in Hannover (Schloss Herrenhausen), Köln (WDR) und Mainz (Gutenberg-Museum) hervor. Substanziell erweitert wird das Modul 3 zudem durch die Arbeitsgruppe zur Geschichte des Weltkultur- und -naturerbes der UNESCO (2013–2016, Förderung im Wettbewerbsverfahren der Leibniz-Gemeinschaft). Studien zu Auschwitz (Julia Röttjer), Aachen (Elsa Duval), Galápagos (Elke Ackermann) und Jerusalem (Benedetta Serapioni) analysieren diese Welterbe-Stätten in ihren lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Bezügen, arbeiten konkurrierende Nutzungsansprüche heraus und problematisieren die Politik wissenschaftlicher Expertise im Kontext divergierender Deutungsmöglichkeiten dieser Stätten. Die Einzelstudien flankieren eine Längsschnittstudie, die das Welterbe-Programm als Instrument der »Kosmopolitisierung des kollektiven Gedächtnisses« in den Blick nimmt (Andrea Rehling). Übergreifend vertieften Konferenzen in Aachen, Jerusalem und Oświęcim, am Kulturwissenschaftlichen Kolleg des Exzellenzclusters »Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz sowie am IEG selbst den Austausch mit einschlägig ausgewiesenen, internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Jede dieser Veranstaltungen kontextualisierte die jeweilige Welterbestätte in einer lokalen Perspektive mit einem spezifischen thematischen Schwerpunkt. Die Projekte des Moduls begreifen alle Kosmopolitismus nicht als utopischen Zukunftsentwurf, sondern als Praxis eines spezifischen, normativ aufgeladenen Umgangs mit Differenz.
a) Verwurzelte Kosmopoliten und transatlantische Mobilitäten: Revolutionäre Leben nach 1848/49
b) Wissen der Welt – Erbe der Menschheit: Die Geschichte des Weltkultur- und Naturerbes der UNESCO
c) Repräsentation als Souveränität: Europäische Auslandskorrespondentennetze im Kalten Krieg