»Pluralisierung und Marginalität«
Pluralisierung und Marginalität
Mit der Formel »In Vielfalt geeint« stellen die Befürworter der europäischen Einigung das Ideal der Vielheit als Grundmerkmal Europas heraus. Aber gehört die Pluralität wirklich zur DNA Europas oder ist sie eine Erfindung der Nachkriegszeit, die den europäischen Einigungsprozess legitimieren soll? Die Forschungen des Teilbereichs widmen sich dem spannungsgeladenen Verhältnis von Marginalität und gesellschaftlich-religiöser Pluralisierung in der europäischen Geschichte. Im Mittelpunkt steht der sich wandelnde, häufig konflikthaft verlaufende Umgang mit Prozessen von Pluralisierung. Anhand der Bedeutung von Marginalität für diese Prozesse fragt der Teilbereich: Wie wandelten sich die Konstruktion und Wahrnehmung von kultureller, sozialer und religiöser Vielfalt sowie der Umgang damit? Und was war mit denjenigen, die nicht als Teil der Mehrheit verstanden wurden oder sich selbst nicht als solche verstanden? Beispielhaft wird erforscht, welche Strategien der Differenzherstellung die historischen Akteure im Umgang mit Marginalität verfolgten, sowohl auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft als auch bei randständigen Einzelnen und Gruppen. Das Wechselspiel von Selbstverortung und Fremdbestimmung wurde dabei keineswegs ausschließlich durch die Mehrheit definiert. Vielmehr standen institutionellen Regelungsmechanismen, die auf Konfliktsituationen reagierten, häufig eigenständige Artikulationspraktiken gegenüber, die von marginalisierten Gruppen oder von deren Fürsprechern vollzogen wurden. Diese Dynamik von Marginalität und Pluralisierung wird in verschiedenen, miteinander verzahnten Themenfeldern untersucht: Religiöse Differenzregulierungen im Kontext von Staatsbildungsprozessen; Repräsentationen, Artikulationsformen und Praktiken der Vertretung von marginalisierten Gruppen und Gesellschaften sowie Weltanschauliche und Religiöse Pluralisierung.
Aktuelles aus dem Forschungsbereich:
- MasterClass mit Prof. Uwe Schimank, Bremen, »Gesellschaftliche Differenzierung; ›Orin Klapp revisited: Opening and closing‹«, IEG, 23.01.2020
- Tagung »Einheit und Vielheit – Europa pluralisieren« – Ein Europa der Differenzen I, IEG, online, 2./3. November 2020. Publikation: DOI: 10.13109/9783666571459 (Göttingen 2022)
- Konferenz »The Multi-Confessionalism of Central Europe under the Reign of Stephan Báthory«, Warschau, 26.–28.06.2023, Prof. Maciej Ptaszyński, Warschau und Henning P. Jürgens
- MasterClass mit Prof. Michael Driedger, St. Catherines, USA, »The Radical Reformation, Sects, Anabaptists, and Other Intellectual Cages: A Plea for a Post-Colonial, Post-Confessional, Post-Christian History of Early Modern Religious Transformations«, IEG, 11.07.2023
Veröffentlichungen (in Auswahl):
– BOUWERS, Eveline G. (Hg.), Catholics and Violence in the Nineteenth-Century Global World, London 2023. URL.
– DUHAUT, Noëmie, »A French Jew Emancipated the Blacks«: Discursive Strategies of French Jews in the Age of Transnational Emancipations, in: French Historical Studies 44 (2021), S. 645–674. URL.
– GERAERTS, Jaap/Kaplan, Benjamin J. (Hg.): Early Modern Toleration. New Approaches, London 2023. URL.
– MÖLLER, Esther/PAULMANN, Johannes/Stornig, Katharina (Hg.): Gendering Global Humanitarianism in the Twentieth Century: Practice, Politics and the Power of Representation, New York 2020. URL.
– JÜRGENS, Henning P./WITT, Christian V. (Hg.): An den Rand gedrängt – den Rand gewählt: Marginalisierungsstrategien in der Frühen Neuzeit, Leipzig 2021. URL.
– DINGEL, Irene (Hg.), Religiöse Friedenswahrung und Friedensstiftung in Europa (1500-1800): Digitale Quellenedition frühneuzeitlicher Religionsfrieden, Wolfenbüttel/Darmstadt 2020. URL; Printfassung: dies. (Hg.), Europäische Religionsfrieden der Frühen Neuzeit. Quellen, Bd. 1: Religionsfrieden 1485–1555, Gütersloh 2021.
– JÜRGENS, Henning P. (Hg.): Dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen: Repräsentationen des Friedens im vormodernen Europa, Bonn 2021. URL.
– KLOSE, Fabian: »In the Cause of Humanity«: Eine Geschichte der humanitären Intervention im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2019 (VIEG 256). URL.
– DINGEL, Irene u.a. (Hg.): Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit = Handbook of Peace in Early Modern Europe, Berlin u.a. 2020. URL.
– WITT, Christian V., Lutherische »Orthodoxie« als historisches Problem. Leitidee, Konstruktion und Gegenbegriff von Gottfried Arnold bis Ernst Troeltsch (VIEG 264), Göttingen 2021, URL.
Projekte zu »Pluralisierung und Marginalität«:
Adolphe Crémieux, ein typischer gescheiterter französischer Universalist?
Auf der Suche nach einer neuen internationalen humanitären Ordnung: der Ägyptische Rote Halbmond (1948–1973)
»Controversia et Confessio«. Quellenedition zur Bekenntnisbildung und Konfessionalisierung (1548–1580)
Differenzen als Reichtum. Eine Geschichte der »Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa« (GEKE)
Engaging Europe in the Arab World – European Missionaries and humanitarianism in the Middle East, 1850–1970
Europa afrikanisieren? Dekolonisation und Universitätsbildung in England, Frankreich und Irland (1957–1973)
Europäische Religionsfrieden als rechtliche Ordnungsmuster konfessioneller Koexistenz in vergleichender Perspektive
Europäische Religionsfrieden Digital (EuReD)
Geschichte der humanitären Hilfe im 19. und 20. Jahrhundert
Gewalt in der Kirche: Innerkatholische Konflikte im ländlichen Hinterland der österreichisch-ungarischen Küstenregion (1890–1914)
Glaubenskämpfe: Religion und Gewalt im katholischen Europa (1848–1914)
Global Humanitarianism Research Academy (GHRA)
Konfessionskultur des Reformiertentums im Nord- und Ostseeraum
Die Konstruktion politischer Kriminalität vor Gericht im Dollfuß-Schuschnigg-Regime (1933–1938)
Marginalisierung durch Historiographie. Werden, Entwicklung und Wirkung der Kategorie »Orthodoxie«
Religion und Politik. Der »Nationale Verein zur Unterstützung der italienischen katholischen Missionare« und die »Chinesischen Entschädigungen« (1886–1912)
Religious Toleration and Peace (RETOPEA)
Religiöse Friedenswahrung und Friedensstiftung in Europa (1500–1800) – digitale Quellenedition frühneuzeitlicher Religionsfrieden
Selbstmarginalisierung der Täufer. »Absonderung« als theologisches Konzept und gesellschaftliche Praxis bei den Täufern des 16. bis 18. Jahrhunderts
»Staatskatholieken en Roomskatholieken«: Die katholischen Laien und das Schisma in der katholischen Kirche in der Niederländischen Republik (um 1650 bis ca. 1750)
Die Welten der ARD. Auslandskorrespondenten als kosmopolitische Akteure zwischen Zweitem Weltkrieg und dem Ende des Kalten Krieges
Welt im Quadrat: Mannheim und der deutsche Kolonialismus
Wirtschaft, Verwandtschaft und jüdische Politik: Die Geschichte der Wertheimer-Familie (ca. 1615–1900)
Zwischen Brüdern und Erbfeinden. Christliche und muslimische »Grenzgänger« in und um Spanisch-Nordafrika (ca. 1851–1869)