Beihefte online
Heinz Duchhardt *
|
|
Inhaltsverzeichnis |
Gliederung: Literatur
Anmerkungen
Zitierempfehlung
Text:
Begründungen eines Friedensvertrags sind, wie die profunde Studie von Jörg Fisch über Krieg und Frieden im Friedensvertrag gelehrt hat,[1] so alt wie das Vertragswesen selbst. Fisch hat verschiedene Klassifizierungen vorgenommen, u.a. eine Unterteilung in Vertragsbegründungen und Einzelbegründungen, von denen letztere das europäische Mittelalter dominieren, wohingegen in der Neuzeit die Vertragsbegründungen im eigentlichen Sinn die Oberhand gewinnen. Vertragsbegründungen sind dabei, so Fisch, im Vergleich »grundsätzlicher, berufen sich eher auf die allgemeinen Prinzipien des Vertragsschlusses«.[2] Dazu konnte in Einzelfällen die Vorgeschichte des zu beendenden Konflikts mit all ihren ideologischen Konnotationen als explizite Begründung des Friedensvertrags dienen, verstärkt aber auch der Rückgriff auf »Instanzen […], die in der jeweiligen Zeit als besonders wichtig gelten«.[3] Diesen »Instanzen«, die man heute wohl eher als Begründungsfiguren bezeichnen würde, gilt unser Interesse.
Es zählt zu den schon häufiger beobachteten Tatsachen, dass sich die zentrale Formel, mit der die vertragschließenden Parteien die Notwendigkeit oder doch Sinnhaftigkeit des geschlossenen Friedens begründeten, in den Jahrzehnten nach dem Westfälischen Frieden veränderte.[4] So ist in einem Beitrag zum Gedenkjahr 1998 der Völkerrechtler Heinhard Steiger dem sich wandelnden Sprachgebrauch und den entsprechenden Begrifflichkeiten nachgegangen:[5] Meistens am Beginn des sog. Kontextes des Urkundenformulars hoben die Vertragschließenden in aller Regel in verschiedenen Varianten auf die Christianitas ab, deren Ruhe wiederhergestellt werden müsse, die danach verlange, dass das Blutvergießen in den Reihen der christlichen Staaten zu einem Ende komme usw. Steiger hat den Weg von der respublica christiana zur Christianitas/Chrétienté nachgezeichnet, aber auch auf alternative Formeln aufmerksam gemacht, die sich auf Dauer nicht durchsetzten (orbis christianum). Auch wenn sich in diesen unterschiedlichen Begriffen politische Entwicklungen spiegeln mögen – von der Einheit und Gemeinsamkeit, die durch die Christlichkeit konstituiert wird, hin zu einem Denken, das »nicht mehr eine politisch einheitliche Struktur« widerspiegelt –, bleibt als Quintessenz, dass an der christlichen Grundlage der europäischen Mächteeinheit festgehalten wird; es soll, so Steiger, »auf diese Weise begrifflich Kontinuität gewahrt bleiben, auch wenn der Begriff inhaltlich und strukturell eine andere Wirklichkeit erfasst«.[6] Diese stereotype Begrifflichkeit, also der Rekurs auf die Christianitas und ihre verschiedenen Varianten, veränderte sich seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts in signifikanter Weise.
5
Dieser Prozess hängt selbstredend damit zusammen, dass im Verlauf des 17. Jahrhunderts die Idee und vor allem die praktisch-politische Seite der Christianitas vollends obsolet geworden waren, wenn dieser Vorgang nicht bereits deutlich früher eingesetzt hatte. Die Idee der Christianitas setzte nicht nur zwei (autoritative und durchsetzungsfähige) Spitzen voraus, eine geistliche und eine weltliche, Papsttum und Kaisertum, sondern – politisch – auch die Bereitschaft der (christlichen) Staatenwelt, sich einer (nicht nur virtuell zu verstehenden) Ordnung zu fügen. Mit beidem sah es spätestens Mitte des 17. Jahrhunderts nicht mehr gut aus: Die Reformation hatte die Autorität der römischen Kurie radikal eingegrenzt. Das Kaisertum konnte nach Karl V. nicht mehr mit dem Anspruch auftreten, eine irgendwie geartete politische Superioritätsstellung einzunehmen oder den Rang eines Arbiter Orbis Christiani zu behaupten, der vielmehr nun immer deutlicher von anderen Mächten beansprucht wurde;[7] und an Ordnungsgedanken, die sich etwa an den päpstlichen Rangtabellen des 15. Jahrhunderts orientierten, verschwendete in Europa ohnehin niemand mehr einen Gedanken: An die Stelle dieser archaischen Abstufungsversuche war längst das Zeremoniell getreten, das zum Schlüssel aller Hierarchisierungen in den internationalen Beziehungen geworden war und sich in frei auszuhandelnden (und damit auch von politischen Konjunkturen abhängigen) Präzedenzien und Titulaturen bemaß, die man dem Gegenüber gab oder aber verweigerte.[8]
Trotz dieses deutlichen Zurücktretens der Christianitas-Vorstellung hätte man sich – das Vertragswesen kennt viele Beispiele dafür – vorstellen können, dass man bei der traditionellen Begründungsfigur geblieben wäre, obwohl der Sache nach eine homogene Christianitas und ein Zusammenwirken ihrer beiden (nominellen) Spitzen nicht mehr existierte und die (schon immer) fiktive harmonische Einheit eines geschichtlichen und politischen Raums der »Christenheit« längst durch Konkurrenz, Gegeneinander und Konfliktualität abgelöst worden war. Der Vorgang, um den es im Folgenden geht, hat etwas mit der beginnenden Frühaufklärung zu tun, mit dem Infragestellen mancher kirchlich determinierten Weltbilder und Wertvorstellungen, und ist somit eine Art Spiegel einer sich rasant beschleunigenden Säkularisierung des politischen Denkens. So wie in den Reichstheorien des 18. Jahrhunderts der Bezug auf die vier Universalmonarchien der Danielschen Weissagung immer mehr zurücktrat,[9] also eine christlich determinierte Sicht der Geschichte obsolet wurde, konnte letztlich auch internationale Politik nicht mehr auf die Grundlage einer vergangenen Ordnungsvorstellung gebaut werden.
6
An anderer Stelle konnte jüngst gezeigt werden,[10] wie der Rekurs auf »Europa« sich ziemlich plötzlich in den frühen 1690er Jahren im Vertragsvölkerrecht zu etablieren beginnt. Ohne die Belege hier im Einzelnen erneut auszubreiten, soll wenigstens auf eine entscheidende Wegmarke verwiesen werden. Wenn in dem umfangreichen Material nichts übersehen wurde, findet sich ein erster Beleg in der Verlängerung der zehnjährigen Defensivallianz zwischen Dänemark und Kurbrandenburg, die am 21. Juni 1692 in Kopenhagen abgeschlossen wurde. Im Protokoll dieses Vertrags wird zunächst das »in der christenheit entbrandte krieges-feuer« ins Feld geführt – seit 1689 stand Europa vor der Herausforderung des Neunjährigen Krieges (um diese Begrifflichkeit für einen in den verschiedenen europäischen Geschichtskulturen ganz unterschiedlich bezeichneten Konflikt zu wählen[11]) –, um die Notwendigkeit einer Fortsetzung der Allianz der beiden nordischen Partner zu begründen, um dann – konkreter – sich darüber zu verständigen, die Regionen, die bisher noch kriegsfrei seien, vor dem Krieg zu bewahren und sich gemeinsam zu bemühen, einen »redlichen, beständigen und sicheren« Frieden zu Stande zu bringen, »wodurch die allgemeine Tranquillität in Europa befestiget werde« (Artikel 4).[12]
Dass man im Hinblick auf unsere Fragestellung in den frühen 1690er Jahren tatsächlich an einem Wendepunkt steht, illustriert auf seine Weise der Vorgängervertrag aus dem Jahr 1682,[13] der genug Gelegenheit geboten hätte, über die Beklagung der gegenwärtigen »Conjuncturen« hinaus die Ruhe und die Sicherheit Europas anzusprechen, die von den beiden Vertragschließenden befördert werden solle. Nichts dergleichen geschah: die Formel hatte in den beginnenden 1680er Jahren in das politische Denken noch keinen Eingang gefunden.
Seit 1692 wurde aber »Europa« zu einer Art Standardformel, um völkerrechtliche Verträge zu begründen und ihnen den Anstrich zu verleihen, die Vertragsparteien handelten völlig selbstlos, nur das Wohl der europäischen Staatenfamilie im Auge habend. Eine ganze Reihe von Belegen findet sich in dem oben genannten Aufsatz in der Burkhardt-Festschrift, auf die verwiesen wird.
Dort war freilich auch festzuhalten, dass keine allgemeine Regel ohne Ausnahme ist. Es war das Frankreich des Roi-Soleil, das in seinen Verträgen mit den bisherigen Kriegsgegnern 1697 den Europa-Bezug geradezu auffällig umging. Ob es der französisch-niederländische Friede vom 20. September jenes Jahres[14] oder der britisch-französische Friedensschluss vom gleichen Tag war: Die Diplomaten vermieden den Rekurs auf die Ruhe Europas und bemühten als Begründungsfigur stattdessen das Vergießen so viel christlichen Blutes (»l’effusion de tant de sang chrêtien«), das nicht mehr fortgesetzt werden dürfe.[15] Der Friedensvertrag mit Spanien, also einem katholischen Staat, bestätigt, dass die französische Diplomatie das Bild vom christlichen Blutvergießen im gegebenen Augenblick offenbar für unverzichtbar hielt und allem Anschein nach – bei der gleichzeitigen Verwendung der »tranquillité publique« hätte sich eigentlich das Europa-Motiv angeboten! – die Europa-Formel bewusst vermied.[16]
7
Über die Gründe sind nur Spekulationen möglich. Die Europa-Formel hätte zu der Assoziation führen können, dass der ganze Kontinent gegen die französische Aggression zusammenstehe und sich organisiere, und dieser Eindruck durfte in einem völkerrechtlichen Dokument der Krone Frankreich nicht entstehen – obwohl natürlich jedermann in Europa wusste, wie der Krieg seinen Anfang genommen hatte. Die französische Diplomatie hatte kein Interesse daran, als Außenseiter innerhalb Europas dazustehen. So wird auch im Vertrag mit Schweden über eine Defensivallianz vom Juli 1698[17] das Europa-Motiv geradezu sorgfältig umgangen: »ut Orbis Christianus solida et firma pace gaudeat« (Artikel 2), »pacis et tranquillitatis publicae conservatio et assertio« (Artikel 2), »ad Orbis Christiani Tranquillitatem tuendam« (Artikel 3) usw.
Erst ab dem Augenblick, als die Krone Frankreich höherer und größerer Ziele wegen auf die europäischen Mächte zuzugehen gezwungen war – also wegen der Sicherung der spanischen Krone für die Dynastie –, wird ein Abrücken von der bisherigen Resistenz gegenüber der Europa-Formel erkennbar. Auch hier mag es mit dem Verweis auf den ersten Beleg sein Bewenden haben: Im 1. Partagetraktat mit den beiden Seemächten aus dem Herbst 1698 brachten die drei Vertragschließenden ihr gemeinsames Ziel zum Ausdruck »de maintenir la tranquillité generale de l’Europe«, und wenn sich jemand gegen den Vertragsinhalt wende, werde man um »le repos de l’Europe« willen Sanktionsmaßnahmen ergreifen.[18] Es drängt sich somit der bestimmte Eindruck auf, dass Frankreich durch den Zwang, mit den Seemächten in der Frage des spanischen Erbes zusammenzuarbeiten, seine anfangs zögerliche, wenn nicht ablehnende Haltung, die Europa-Formel in den Kanon seiner Begründungs- und Legitimationsfiguren aufzunehmen, aufgeben musste und aufgegeben hat. Bei den Friedensverträgen, die der Sonnenkönig nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekriegs einzugehen gezwungen war, fanden dann allem Anschein nach keine Versuche mehr statt, der Europa-Formel zu entgehen. Man wird sagen können, dass »Europa« allerspätestens mit den Utrechter Verträgen, wenn nicht bereits seit dem wegweisenden Allianzvertrag der Frankreichgegner, der Haager Allianz vom September 1701,[19] zum unbestrittenen Zentrum der Legitimationsfiguren wurde.[20]
Befinden wir uns insofern also auf gesichertem Boden, gilt das Interesse dieser kleinen Studie einer Beobachtung, die überhaupt noch niemals thematisiert worden ist. Das »Europa« dieser Phase der völkerrechtlichen Vertragsentwicklung wurde im Allgemeinen mit Substantiven verbunden, die im weiteren Sinn etwas mit »Ruhe« zu tun haben: mit der tranquillitas ganz direkt, mit der »Sicherheit«, dann auch mit dem »Gleichgewicht«, das aber insgesamt nicht zur beherrschenden Vertragsmetapher der europäischen Vormoderne avancierte.[21] Diese Standardformel – der Friede wird geschlossen, um die Ruhe und Sicherheit Europas wiederherzustellen – erfährt im Verlauf des frühen 18. Jahrhunderts dann aber eine höchst aufregende Erweiterung: Ab einem bestimmten Zeitpunkt geht es nicht mehr nur um die »Ruhe Europas«, sondern auf einmal auch um die Bewahrung oder Wiederherstellung seiner liberté. Im spanisch-britischen Frieden von 1713 ist, wenn ich es richtig sehe, zum ersten Mal auch von der »Libertas […] totius Europae« die Rede.[22]
8
Dass ein solcher Wandel von der tranquilitas zur libertas Europas überhaupt ins Auge gefasst wurde, hat selbstredend etwas mit einem »klassischen« Begriff der beginnenden Aufklärung zu tun, die vor allem die Kategorien der Willens- und Handlungsfreiheit des einzelnen diskutierte, aber auch damit, dass sich der Freiheitsbegriff im Verlauf des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts erkennbar politisierte. Johann Georg von Justi hat seine Definition von politischer Freiheit zwar erst 1771 formuliert – politische Freiheit sei die »Freiheit des Staates in Ansehung seines Verhältnisses gegen andere Staaten« –,[23] aber in der Sache bewirkte genau das den Paradigmenwechsel von der tranquilitas zur libertas. Die Freiheit Europas: dem lag die Erfahrung des ludovizianischen Zeitalters zugrunde, der Wille, es nie mehr zu »universalmonarchischen« Versuchen kommen zu lassen, die Entschlossenheit nicht zuletzt, die Vielfalt der europäischen Staatenwelt, was die Staatsform, die Konfession, die Größe, die Ressourcen, die Schlagkraft betraf, nie mehr in Frage stellen zu lassen. Der historischen Semantik, der Begriffsgeschichte, steht hier noch ein weites Feld offen; eine gezielte Recherche scheint keinen Zweifel zu lassen, dass Großbritannien es war, das vorrangig ein Interesse daran hatte, die »Freiheit Europas« in das Vertragsvölkerrecht einzuführen. Nicht zufällig findet sich ein erster Beleg für Londons Entschlossenheit, »pour se mettre en estat de pouvoir toujours veiller à la liberté commune de l’Europe«, in einem Vertrag mit seinem kongenialen Partner jenseits des Kanals.[24]
Ebenso auffällig ist freilich, dass die Formel von der »liberty of Europe« in den Jahrzehnten nach Utrecht wieder zurücktritt. Es war jene Phase der internationalen Politik, die – zumindest bis in die frühen 1730er Jahre hinein – von einer schon von den Zeitgenossen als ganz und gar ungewöhnlich empfundenen Partnerschaft Londons und Versailles’ geprägt war,[25] von vielen Verträgen, die die beiden Mächte gemeinsam mit Dritten abschlossen. Schon allein diese Beobachtung könnte zu der Vermutung führen, dass die »liberty of Europe« nicht allen britischen Vertragspartnern gegenüber gleichmäßig und gleichförmig verwendet wurde – und dass sie niemals Verwendung fand, wenn Frankreich zu den Vertragspartnern zählte: das arrogante, überhebliche, die europäische Staatenwelt vermeintlich, konstruiert oder tatsächlich mit ihren universalmonarchischen Ansprüchen bedrohende Frankreich, das auch in seinem Innern das gerade Gegenteil von dem darstellte, was nach der Meinung aller Briten ihren Staat auszeichnete: Freiheit überall. »Freiheit«, so lässt sich demzufolge als Hypothese formulieren, wurde nur und ausschließlich als Formel gegen Frankreich verwendet, als Formel, um den Bourbonenstaat zu isolieren und moralisch in den Zustand des Aggressors schlechthin herabzudrücken.
9
Von daher ist es kein Zufall, dass die »liberty of Europe« genau zu dem Zeitpunkt wieder im Vertragsvölkerrecht auftauchte, als London wieder daran ging, Koalitionen gegen Frankreich zu schmieden: Im britisch-österreichisch-sardinischen Vertrag von 1743 vereinbaren die drei Partner »de s’unir ensemble plus étroitement et plus inséparablement« aus dem gemeinsamen Interesse heraus der »Conservation d’un juste Equilibre en Europe, d’ou depend la Liberté de l’Europe«.[26] Im britisch-polnisch-österreichisch-niederländischen Traktat von 1745 sichern sich die Partner die Aufrechterhaltung ihrer Verträge zu, »qui assûrent la liberté, la sûreté & la tranquillité publiques«.[27]
Das soll nicht heißen, dass in allen Verträgen der 1740er und 1750er Jahre die britische Diplomatie konstant die Formel von der »liberty of Europe« bemüht hätte; bei nachgeordneten Verträgen wie etwa dem vierseitigen Vertrag zur Vorbereitung der Kampagne von 1747 »begnügte« man sich mit der Formel vom »salut de l’Europe« und dem »bien de la cause commune«,[28] in der britisch-preußischen Präliminarkonvention vom August 1745 wird von der »tranquillité […] de l’Europe en général« gesprochen,[29] im britisch-russischen Subsidienvertrag vom Oktober 1747 von der »tranquillité […] en Europe«.[30] Aber, um die obige Aussage variierend noch einmal zu bekräftigen: In den wirklich wichtigen Verträgen mit britischer Beteiligung, die in irgendeiner Hinsicht einen antifranzösischen Affekt enthielten oder provozieren sollten, wurde »liberté/liberty« zur natürlichen Komplementärformel von »Europe«; in der Westminsterkonvention vom 11. Oktober 1757 zwischen Großbritannien und Preußen verständigten sich die beiden Monarchen vor dem Hintergrund der als »peu naturelle« charakterisierten französisch-kaiserlichen Allianz vom 1. Mai des Vorjahres darauf, »de faire les plus grands efforts pour maintenir les libertés de l’Europe«.[31]
Am Ende dieses Beitrags steht somit eine doppelte Generalaussage: Zunächst die, dass die Europa-Formel seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert die Grundsatzabschnitte der Friedensverträge dominierte und die aus der Christianitas abgeleiteten rhetorischen Figuren nahezu völlig verdrängt hatte beziehungsweise im Begriff stand, es zu tun. Die Staatenwelt hatte sich endgültig entschlossen, ihre Vertragsbeziehungen auf eine uneingeschränkt säkularisierte Basis zu stellen. Und die zweite Generalaussage ist nicht weniger aufregend: Großbritannien war das Land, das vor der Folie seines Selbstverständnisses von seiner eigenen politischen Kultur die Figur der »Freiheit Europas« in das Vertragsvölkerrecht einführte und sie immer in einem antifranzösischen Sinn verstand: Nur eine Macht sei von jeher darauf aus gewesen, die Freiheit Europas durch ihre universalmonarchischen Anwandlungen zu bedrohen und damit auch die Freiheit eines jeden Einzelstaates. In Konfliktsituationen, d.h. wenn es darum ging, antifranzösische Koalitionen zusammenzuzimmern, erwies sich »liberté/liberty« als die neue Zauberformel, die in ihrer politischen Schlagkraft weit über die »tranquilitas/tranquillité« hinausreichte. Man sage nicht, das Vertragsvölkerrecht in der Zeit der Aufklärung sei steril geworden und sei ohne politische Botschaften und Kampfbegriffe ausgekommen!
10
LiteraturCTS siehe Parry, Clive.
Duchhardt, Heinz: Imperium und Regna im Zeitalter Ludwigs XIV., in: Historische Zeitschrift 232 (1981), S. 555–581.
Ders. u.a. (Hg.): Der Friede von Rijswijk 1697, Mainz 1998 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beihefte 47).
Ders.: The Missing Balance, in: Journal of the History of International Law 2 (2000), S. 67–72.
Ders.: Peace Treaties from Westphalia to the Revolutionary Era, in: Randall Lesaffer (Hg.), Peace Treaties and International Law in European History. From the Late Middle Ages to World War One, Cambridge 2004, S. 45–58.
Ders.: »Europa« als Begründungs- und Legitimationsformel in völkerrechtlichen Verträgen der Frühen Neuzeit, in: Wolfgang E. J. Weber u.a. (Hg.), Faszinierende Frühneuzeit. Reich, Frieden, Kultur und Kommunikation 1500–1800. Festschrift für Johannes Burkhardt zum 65. Geburtstag, Berlin 2008, S. 51–60.
Fisch, Jörg: Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses, Stuttgart 1979 (Sprache und Geschichte 3).
Heuvel, Gerd van den: »Freiheit (politisch)«, in: Werner Schneiders (Hg.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995, S. 134 f.
Kampmann, Christoph: Arbiter und Friedensstiftung. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit, Paderborn u.a. 2001 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte N.F. 21).
Lesaffer, Randall (Hg.): Peace Treaties and International Law in European History. From the Late Middle Ages to World War One, Cambridge 2004.
Mühlen, Patrick von zur: Die Reichstheorien in der deutschen Historiographie des frühen 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte GA 89 (1972), S. 118–146.
Parry, Clive (Hg.): The Consolidated Treaty Series, New York 1969–1981, Bd. 1–231.
Steiger, Heinhard: Der Westfälische Friede – Grundgesetz für Europa?, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede: Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998 (Historische Zeitschrift, Beihefte 26), S. 33–80.
Stollberg-Rilinger, Barbara: Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte NF 7 (1997), S. 145–176.
11
ANMERKUNGEN
[*] Heinz Duchhardt, Prof. Dr., Institut für Europäische Geschichte Mainz, Direktor der Abteilung für Universalgeschichte und Leiter des DFG-Projekts »Europäische Friedensverträge der Vormoderne Online«.
[1] Fisch, Krieg und Frieden 1979.
[2] Ebd., S. 428.
[3] Ebd., S. 442.
[4] Zum Vertragsvölkerrecht generell vergleiche den aus einer Tilburger Tagung hervorgegangenen Sammelband Lesaffer, Peace Treaties 2004. Einschlägig für die hier zur Diskussion stehende Epoche Duchhardt, Peace Treaties 2004.
[5] Steiger, Westfälischer Friede 1998.
[6] Ebd., S. 73.
[7] Kampmann, Arbiter 2001.
[8] Vergleiche etwa als schlaglichtartigen Einblick Duchhardt, Imperium und Regna 1981; jetzt aber z.B. aus der Perspektive Kulturgeschichte des Politischen auch Stollberg-Rilinger, Höfische Öffentlichkeit 1997.
[9] Vergleiche von zur Mühlen, Reichstheorien 1972.
[10] Duchhardt, Europa als Legitimationsformel 2008.
[11] Erneuerung der Defensivallianz von Berlin 1692 VI 21, Zitat S. 2, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 17. März 2008), gedruckt in CTS 20, S. 45–58. Vergleiche das Vorwort zu dem Tagungsband Duchhardt, Rijswijk 1998, Vorwort S. VIII.
[12] Erneuerung der Defensivallianz von Berlin 1692 VI 21, Zitat S. 5, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 17. März 2008), gedruckt in CTS 20, S. 49.
[13] Defensivallianz von Berlin 1682 I 31, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 17. März 2008), gedruckt in CTS 16, S. 169–179.
[14] Friedensvertrag von Rijswijk 1697 IX 20, Frankreich, Generalstaaten, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 17. März 2008), gedruckt in CTS 21, S. 347–357.
[15] Friedensvertrag von Rijswijk 1697 IX 20 Frankreich, Großbritannien, gedruckt in CTS 21, S. 409–419, Zitat S. 411.
[16] Friedensvertrag von Rijswijk 1697 IX 20 (Frankreich, Spanien), gedruckt in CTS 21, S. 453–469, Zitate S. 455–456.
[17] Bündnisvertrag von Stockholm 1698 VII 9, Zitate S. 4 f., in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 17. März 2008), in franz. Übersetzung gedruckt in CTS 22, S. 179–184.
[18] Teilungsvertrag von Den Haag 1698 X 11, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 17. März 2008), mit Link zu: Base Choiseul, https://pastel.diplomatie.gouv.fr/choiseul (eingesehen am 17. März 2007). Zitate S. 2, 13. Gedruckt in CTS 22, S. 197–206, Zitate S. 200 (Artikel 2), 204 (Artikel 13).
[19] Allianzvertrag von Den Haag 1701 IX 7, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 17. März 2008), gedruckt in CTS 24, S. 11–20. Nachdem bereits im Prooemium Frankreichs und Spaniens Haltung beklagt worden war, »ut se magis et magis inter se devinciant, ad opprimendam Europae libertatem […]«, heiß es in Artikel 2, dass den drei Vertragschließenden nichts mehr am Herzen liege »quam pax et tranquillitas generalis totius Europae«. Zitate: Online-Version S. 4 f.
[20] Die Belege können und sollen hier nicht alle ausgebreitet werden; vergleiche etwa noch aus dem Spanischen Erbfolgekrieg: Offensiv- und Defensivallianz von Lissabon 1703 V 16, S. 3, Erneuerung von Westminster 1703 VI 9, S. 3, Bündnis von Den Haag 1703 VII 19_29, S. 2, allesamt in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 18 März 2008), gedruckt in CTS 24, S. 375–407, 421–432, 439–450, die »Europa«-Belege S. 390, 423, 442; außerdem Vertrag von Turin 1704 VIII 4, CTS 25, S. 97–118, hier S. 103 (»Pax et tranquillitas generalis totius Europae«), Vertrag von Berlin 1704 XI 28, CTS 25, S. 215–225, hier S. 218; Präliminarartikel von Den Haag 1709 V 28, S. 4, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 18. März 2008), gedruckt in CTS 26, S. 317–329, hier S. 320 f.
[21] Duchhardt, Missing Balance 2000.
[22] Friedensvertrag von Utrecht 1713 VII 2_13, Artikel 2 S. 7, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 16. November 2007). Vergleiche die englische Übersetzung in CTS 28, S. 325–347, hier S. 325.
[23] Vergleiche den Artikel: van den Heuvel, Freiheit 1995, Zitat S. 134.
[24] Allianz von Den Haag 1701 XI 11, S. 4, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 18 März 2008), gedruckt in CTS 24, S. 55–62, Zitat S. 57.
[25] Vergleiche Black, Anglo-French Relations 1986.
[26] Bündnisvertrag von Worms 1743 IX 13, S. 3, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 18 März 2008), in ähnlicher Fassung gedruckt in CTS 37, S. 183–207, Zitate S. 187 (»union plus étroite & plus inséparable«, »conservation d’une juste balance en Europe, de laquelle dépendent ses Libertés«).
[27] Allianz von Warschau 1745 I 8, S. 2, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters, www.ieg-mainz.de/friedensvertraege (eingesehen am 18 März 2008), gedruckt in CTS 37, S. 307–318, Zitat S. 310.
[28] Konvention von Den Haag 1747 I 12, in: CTS 38, S. 49–66, Zitate S. 51.
[29] Präliminarkonvention von Hannover 1745 VIII 26, in: CTS 37, S. 411–416, Zitat S. 413.
[30] Subsidienvertrag von St. Petersburg 1747 VI 12_23, in: CTS 38, S. 145–149, Zitat S. 147; entsprechend in der Konvention von St. Petersburg 1747 XI 27, in: CTS 38, S. 177–186, hier S. 179.
[31] Konvention von Westminster 1757 I 11, in: CTS 40, S. 431–436, Zitat S. 433.
ZITIEREMPFEHLUNG
Heinz Duchhardt, »Europa« als Begründungsformel in den Friedensverträgen des 18. Jahrhunderts: von der »tranquillité« zur »liberté«, in: Heinz Duchhardt / Martin Peters (Hg.), Instrumente des Friedens. Vielfalt und Formen von Friedensverträgen im vormodernen Europa, Mainz 2008-06-25 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 3), Abschnitt 5–11.
URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/03-2008.html>.
URN: <urn:nbn:de:0159-2008062408>.
Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.
Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 6 oder 5–8.