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Matthias Middell *
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Inhaltsverzeichnis |
Gliederung: 1. Nationalgeschichtsschreibung
2. Neuere Tendenzen der Europa-Geschichtsschreibung
3. Transnationale Geschichte
4. Das Verhältnis von nationaler, transnationaler und europäischer Geschichte
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Zitierempfehlung
Text:
Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf das Verhältnis von drei Feldern der Historiographie, die hier anfangs lediglich aus analytischen Gründen getrennt betrachtet werden, die aber in der Praxis eine große Zahl von Überschneidungen aufweisen, die sich schon daraus ergeben, dass sich dieselben Historiker häufig sogar innerhalb kurzer Zeit zu Problemen aus allen drei oder mindestens zwei dieser Felder äußern. Ich versuche zunächst eine kurze Charakterisierung der drei im Titel angesprochenen Varianten von Geschichtsschreibung, um dann ihre Kombinierbarkeit anhand neuerer Entwicklungen in diesen Feldern zu erörtern.
1. Nationalgeschichtsschreibung
Es herrscht eine weitgehende Übereinkunft in der Historiographiegeschichte, dass die Mehrheit der Historiker Nationalgeschichte betreibe. Dabei handelt es sich selbstverständlich nicht mehr vorrangig um jene antiquierte Form der Rechtfertigung des Nationalen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert nach kulturellen, institutionellen und/oder ethnischen Wurzeln der nationalen Gemeinschaft und des Staates in grauer Vorzeit und mittelalterlichen politischen Formationen fahndete, sondern um eine Analyse vorzugsweise moderner Gesellschaftsentwicklungen für einen Raum, der in der Regel identisch ist mit dem Raum, den der aktuelle Nationalstaat einnimmt bzw. den er im 19. und 20. Jahrhundert über einen längeren Zeitraum eingenommen hat. Dieses sogenannte Containermodell verlängert eher neuere territoriale Konfigurationen und darauf basierende Souveränitätskonzepte »rückwärts« und nicht mehr mythische Ursprünge chronologisch »vorwärts«. Dieser methodologische Nationalismus ist durchaus kompatibel mit innovativen Ansätzen der Sozial-, Wirtschafts-, Kultur-, Politik- und Geschlechtergeschichte, auch wenn diesen ein Potential zur Überschreitung dieses nationalen Rahmens durchweg innewohnt.[1]
Bei der Überprüfung dieser Feststellung ergibt sich allerdings
- dass die Zahl derjenigen Historiker, die tatsächlich die gesamte Geschichte einer Nation / eines Nationalstaates oder eines wichtigen Zeitabschnitts daraus schreiben / untersuchen, vergleichsweise gering ist, deutlich kleiner jedenfalls als die jener Historiker, die sich lokalen und regionalen Gegenständen zuwenden und nur einen rhetorischen Bezug auf die nationale Rahmung dieser Geschichten unternehmen.
- Jedoch schreibt eine tatsächlich überwältigende Mehrheit über verschiedene Gegenstände in der Perspektive des »methodologischen Nationalismus«, der die Finalität von Nation und Nationalstaat zum Ausgangspunkt der Argumentation oder aber einfach zur unhinterfragten Voraussetzung seiner Analysen nimmt.
Dies wird erklärt mit
- der Legitimationsfunktion der Geschichtswissenschaft gegenüber dem aufstrebenden Nationalstaat, für dessen Einheitsphantasien und Integrationsnotwendigkeiten Historiker die Begründungen lieferten,
- der Orientierungsfunktion der Geschichtswissenschaft: Historisierung wird hier als Bewältigungsstrategie gegenüber Zumutungen der Moderne verstanden, die ganz wesentlich im nationalen Rahmen erlebt würden,
- der Ausrichtung auf die Lehrerausbildung für die nationalen Schulsysteme, die eine permanente Expansion des Faches parallel zur Expansion des Bildungssektors überhaupt garantiert,
- der Organisation des Faches an den Universitäten in nationalgeschichtlich ausgerichteten Lehrstühlen und Instituten (mit der Ausnahme der Osteuropaforschung, die aber auch bis in die Zwischenkriegszeit wesentlich Russlandforschung war). Damit ergibt sich eine Reproduktion des methodologischen Nationalismus parallel zur Reproduktion des Faches.
Die Konjunktur der Nationalgeschichtsschreibung fällt mit der Dominanz eines Territorialitätsregimes[2] zusammen, das den Nationalstaat als überlegene Form gesellschaftlicher Organisation propagiert (ca. 1860 bis 1970). Zu diesem Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Geschichtsschreibung und -forschung als zunehmend professionalisierter akademischer Disziplin und dem Aufstieg der Nationalisierung von Staat und Gesellschaft als effizienter Form der gleichzeitigen Steuerung von weltweiter Vernetzung und territorial eingeschränkter sozialer Integration ist viel geschrieben worden, sodass wir über den Variantenreichtum dieser Verbindung gut informiert sind.[3]
Weniger Aufmerksamkeit hat die Tatsache gefunden, dass sich mit jedem Globalisierungsschub seit dem 18. Jahrhundert eine Herausforderung dieses nationalgeschichtlichen Paradigmas konstatieren lässt. So ergeben sich bemerkenswerte Konjunkturen universal- oder globalgeschichtlicher Vorgehensweisen um 1850, um 1900, nach dem Zweiten Weltkrieg und seit Beginn der 1990er Jahre.[4] Hegemoniepositionen in der internationalen Geschichtswissenschaft werden von jenen errungen, die mit diesen Herausforderungen produktiv umgehen und sie nicht einfach im Namen der alleinigen Legitimität (Übereinstimmung mit den Interessen des Faches, des Publikums und den Professionalitätsstandards) des nationalgeschichtlichen Paradigmas abweisen.[5]
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2. Neuere Tendenzen der Europa-Geschichtsschreibung
Zu den Herausforderungen der Nationalgeschichte gehört die wachsende Aufmerksamkeit für Europa. Die Zahl europabezogener historischer Darstellungen wächst laufend, wenn auch wenig spektakulär.
Ein Blick auf die deutsche Nationalbibliographie zeigt: Die Beschleunigung des Publikationsaufkommens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hält ungefähr mit der Zunahme der Gesamtzahl erfasster Publikationen zu historischen Gegenständen Schritt. Auffällig ist eine deutliche Abflachung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und die Stabilisierung auf einem hohen Plateau seit 15 Jahren.
Zugleich zeigt die Analyse der Einträge zu »Europa, Geschichte« und »europäische Geschichte« in der deutschen Nationalbibliographie, dass diese Kategorien auch Vermischtes heißen könnten, denn neben einem »Europa-Lexikon« (Hg. von Wolf D. Gruner) steht ein Sammelband zu »Forschungen zur altgriechischen Gesellschaft«, ein Überblick zum europäischen Völkerrecht und eine Studie zu »Vorarlberger Landsbräuchen« sowie ein ästhetisch anspruchsvoller Band über »Europäische Einbandkunst aus Mittelalter und Neuzeit«.
Es geht hier nicht um die Zufallsergebnisse mangelhafter bibliothekarischer Verzeichnungsarbeit, sondern um einige Befunde, die uns bei der Analyse des Feldes weiter helfen können:
- Europäische Geschichte ist keine Forschungslücke, kein quantitativ vernachlässigtes Feld. Ganz im Gegenteil, in jüngster Zeit erscheint allein in Deutschland aller zwei Tage ein Buch in dieser Rubrik.
- Eine gewisse Beschleunigung ist erkennbar, aber wir sehen eine Kurve, die überraschend nahe an der durchschnittlichen Frequenz deutschsprachiger Publikationen bleibt: »Europa« ist ein Thema mit mittlerem Interessenzuwachs, während wir unter dem Stichwort »Globalisierung« ein eher exponentielles Wachstum antreffen.
- Eine sinnvolle Wissensordnung hat die Forschung, obwohl sie doch schon so lange daran arbeitet, den Bibliothekaren offenkundig noch nicht geliefert. Allerhöchstens lassen sich zwei Annahmen rekonstruieren, deren Fragwürdigkeit auf den ersten Blick einleuchtet: »Europäische Geschichte« ist ein Container allen Geschehens auf dem Kontinent, und die Periodisierung folgt den wichtigsten Daten der westeuropäischen bzw. deutschen Geschichte (1648, 1789, 1871).
Außerdem ist Europa in dieser Statistik ein Phänomen der Gegenwart: gegenüber 18 Titeln im Jahr 2004, auf das sich diese Auswertung bezieht, zum 18. Jahrhundert stehen gut doppelt so viele (39) zum 19. und 30 zum gesamten 20. Jahrhundert, aber 133 für das halbe Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg und noch einmal 130 für die 15 Jahre seit 1989.
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Zugleich signalisiert die enorme Zunahme von Tagungen und Ringvorlesungen zur Frage, was eigentlich unter europäischer Geschichte zu verstehen sei, einen Bedarf nach Überwindung des unbefriedigenden Zustandes. Denn die Europäisierung der Geschichtsbilder wird immer wieder als Forderung postuliert und verlangt ihrerseits eine Neujustierung des gesamten Systems von Geschichtslehrerausbildung, Curriculardebatten und Lehrbucherneuerung. Wir stecken in Deutschland mitten im Umbruch, und es gibt vielfältige Tendenzen einer Erneuerung der Europa-Geschichtsschreibung hierzulande.
Ich beginne mit einem knappen Rückblick, der die großen Erzählungen der europäischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert Revue passieren lässt. Sie sind solide im öffentlichen Bewusstsein abgelagertes Erbe und wirken bis heute fort. In einem zweiten Abschnitt diskutiere ich die Rolle des spatial turn, der wachsenden Aufmerksamkeit für Phänomene der Verräumlichung, für eine Geschichte Europas, um anschließend sechs thematische und methodische Zugänge zu skizzieren, die m.E. besonders produktiv sein können.
2.1. Traditionen der Europageschichtsschreibung
Einschlägige Forschungsberichte[6] verzeichnen die Ursprünge der Europahistorie in der humanistischen Verteidigung eines christlichen Europas gegen die Bedrohung der Osmanen. Aufklärung und Napoleon-Ära verdichteten dieses Bild zu einer Deutung, die den Begriff der civilisation in den Mittelpunkt rückte und die Überlegenheit Europas und der Europäer gegenüber anderen Weltregionen ausdrückte.[7] Diese Hervorhebung beruhte auf 5 Grundannahmen:
- einer bis in die Antike zurückreichenden Kulturtradition, die durch die Renaissance wiederbelebt wurde und sich mit Frankreichs kultureller Hegemonie im 17. und 18. Jahrhundert verband,
- Individualismus und Unternehmergeist als Antrieb einer wirtschaftlichen Überlegenheit,
- Freiheit als wichtigstes Merkmal der politischen Kultur,
- einem Mächtegleichgewicht zwischen mehreren Staaten, die den Kontinent führten,
- Zivilisiertheit als öffentlich akzeptierten Regeln sozialer Beziehungen.
Die Restaurationsepoche nach 1815 fügte diesem Bild zwei weitere Elemente hinzu:
- die erneute Aufwertung des Mittelalters als Quelle einer konservativen Lesart Europas und
- eine Betonung der christlichen Wurzeln europäischer Kultur.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts trat der Nationalstaat als die quasi natürliche Form, in der sich europäische Geschichte vollzog, hinzu.[8] Dies war auch nicht verwunderlich, denn die Geschichtswissenschaft verdankte ihre erneuerte Existenz als Fach und Profession weitgehend dem Bündnis mit dem Nationalstaat, dessen Archive sie hütete und nutzte, dessen Bildungseinrichtungen sie dominierte und für ihren Deutungsanspruch in der Gesellschaft instrumentalisierte. Die Geschichte Europas erschien als Konkurrenz und Nebeneinander der einzelnen Nationalgeschichten und manifestierte sich vor allem als Buchbindersynthese.
Als der Erste Weltkrieg die Konfrontation der Nationen auf die Spitze getrieben hatte, suchten die Historiker erneut im aufklärerischen Projekt der europäischen Zivilisation Halt, um die Zerklüftung und Spaltung des Kontinents zu überwinden. Man denke an Henri Pirennes Histoire de l’Europe, die er im deutschen Gefangenenlager während des Ersten Weltkrieges schrieb, oder an Arnold Toynbees zehnbändige Study of History. Die Krise Europas durch die Zuspitzung der nationalstaatlichen Konfrontation, die Faschismus und Nationalsozialismus noch bedrohlicher machte, bewegte auch Oswald Spengler, während Hans Freyer das Ende der »Weltgeschichte Europas« erst 1944 erkennen konnte, als er mit den deutschen Truppen aus Budapest fliehen musste. Federico Chabods Mailänder Vorlesungen, Walter Kaegi, Louis Namier und Johan Huizinga werden in diesem Zusammenhang in aller Regel ebenfalls erwähnt, um die Breite des Krisenbewusstseins von »Europa« und die Prominenz seiner Träger anzudeuten.
Lucien Febvre fasste in seiner Antrittsvorlesung 1944/45 am Collège de France zusammen, was Kollegen in vielen Teilen Europas umtrieb: Der Rückfall in die Barbarei sollte durch die Beschwörung europäischer Werte und Zivilisation gebannt werden. All diesen Bemühungen lag eine Vorstellung zugrunde, die gleichsam ewige europäische Werte postulierte. Es sei die Rolle der Historiker, diese Wertekontinuität zu bewahren, gerade und besonders dort, wo die Wiederkehr der Barbarei sie bedrohte.
Aber die Ontologisierung der Nationalstaaten blieb in all diesen Werken unhinterfragt. Das gilt für die Cambridge Modern History Lord Actons, für die europageschichtliche Buchreihe Peuples et Civilisations in Frankreich und ebenso für die deutsche Propyläen-Geschichte Europas. Europa wurde nach dem Muster des unvermeidlichen Übergangs von einer schon lange präexistierenden Nation zum Nationalstaat gedacht, die Einheit Europas ist dabei ein Ziel, das in Analogie zur Herstellung der nationalen Einheit im 19. Jahrhundert konzipiert wurde.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat eine neue Art der Europa-Geschichtsschreibung hinzu, die den entstehenden Institutionen der EWG und EU eine Vorgeschichte liefert. Auch in diesem Denkzusammenhang existierte Europa als Weltregion schon immer, es ließ jedoch die nötige Institutionalisierung, Öffentlichkeit und mentale Verbundenheit vermissen.[9] In der Europäischen Gemeinschaft findet der Kontinent endlich zu seiner historischen Bestimmung.[10]
Vor allem vier Punkte sind in der Kritik an dieser Art von Europa-Geschichtsschreibung betont worden:
- der ausgeprägte teleologische Ansatz,
- die legitimatorische Funktion und Finalität[11],
- die explizit oder implizit enthaltene Abgrenzung gegenüber dem Rest der Welt[12]
- die Behandlung bzw. Nichtberücksichtigung Osteuropas. Denn die Geschichte Europas als Geschichte der Zivilisation ist nur allzu oft ein exklusives Narrativ des Westens, der seine Werte und Institutionen langsam, aber unaufhaltsam nach Osten expandiert[13]
Nehmen wir diese Kritik ernst, dann
- ist Europäische Geschichte nur im Plural als Geschichten Europas denkbar,[14]
- muss die Zäsur der Durchsetzung nationalisierter Machtstaaten im 19. Jahrhundert für die europäische Geschichte gründlich bedacht werden,
- kann der Bezug zum Osten und Südosten Europas nicht länger in den Kategorien eines Kulturgefälles konzipiert werden, und
- dürfte europäische Geschichte nicht ohne Bezug auf die Geschichte der Globalisierung gedacht werden.
Angesichts dieser beträchtlichen Vielfalt von Aufgaben stellen sich leicht Überforderungssymptome ein, die sich auch in unterkomplexer Kanonbildung mancher Europastudiengänge und im Rückgriff auf überkommene Narrative bei offiziellen Gelegenheiten zeigen.
Andererseits ist in neuen Buchreihen und einer breiten Debatte um das Wie von Europa-Geschichte eine quantitative und qualitative Konjunktur zu beobachten. Sie kann grob und idealtypisch in drei Richtungen eingeteilt werden, wobei sich in vielen neueren Werken die Ansätze mischen:
- Kumulation des Wissens über historische Vorgänge, die in einem Container »Europa« beobachtet werden,
- Herausarbeitung europäischer Spezifika im Vergleich zu anderen Weltregionen,
- Beschreibung der intellektuellen und sozialen wie kulturellen Konstruktionsvorgänge, die Europa in den historisch verschiedenen Stufen hervorgebracht haben.
2.2. Welche Folgen hat der spatial turn für die europäische Geschichte?
Ich will hier keine lange theoretische Einführung in diese erneute Annäherung von Geographie und Geschichtswissenschaft geben.[15] Das Thema hat in jedem Fall Konjunktur. Dies hat zweifellos mit der Globalisierung zu tun.
Paradoxerweise schien zunächst der Raum eher zu verschwinden. In Ulrich Becks Entwurf einer Soziologie der Globalisierung von 1994 wurde nicht nur von Beschleunigung, sondern auch von Ortlosigkeit als Charakteristikum der globalisierten Welt ausgegangen. Inzwischen hat sich diese Behauptung stark relativiert. Bei aller Raum-Zeit-Kompression ist die Auseinandersetzung um die richtigen Raumstrukturen keineswegs zu Ende, sie läuft vielmehr intensiviert vor unseren Augen ab. Der Grund dafür ist, dass Globalisierung eben nicht nur simple Entgrenzung ist. Diese rein lineare Auffassung von Globalisierung, die zunächst (Anfang der 1990er Jahre) bei Ökonomen und auch bei Politologen wie Francis Fukuyama vorherrschte, hat sich nicht bestätigt. Globalisierung kann definiert werden als Vernetzung und Verflechtung, die durch technologische, kommunikative Neuerungen und Ausweitung der Marktbeziehungen unvermeidlich geworden ist. Diese Abhängigkeit erfolgreicher Entwicklung von externen Ressourcen wird aber begleitet von der Suche nach Raumordnungen, die zwar die Verflechtung nicht aufheben, aber eine autonome Definition der Bedingungen gestatten, zu denen diese Verflechtungen eingegangen werden.
Um es provokant abzukürzen: die Nationalisierung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist nicht das Gegenteil von Globalisierung, sondern eine geschichtlich beobachtbare Variante neben anderen, Globalisierung zu gestalten. Gleiches trifft für die Durchsetzung konkurrierender Muster der Verräumlichung zu: für die Regionalisierung, für die Transnationalisierung, und natürlich auch für die Europäisierung.
Diese Prozesse der Territorialisierung, der Ent- und der erneuten Begrenzung, sind aber nicht Effekte irgendwelcher »unsichtbaren Hände«, sondern Menschenwerk, es sind Versuche, auf absehbare oder nur zu erahnende neue Konfigurationen von Markt und Macht zu reagieren. Daraus folgt: sie können auch schiefgehen, sie können misslingen wegen der falschen Antizipation oder wegen eines ungünstigen Kräfteverhältnisses zu den Interessen anderer Gruppen, oder sie scheitern an der Übermächtigkeit kulturell überlieferter Formen der Verräumlichung. Das Votum zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden liefert genug Anschauung für diesen theoretisch klingenden Zusammenhang.
Geht man von einer solchen globalgeschichtlichen Einbindung der Geschichte Europas aus, dann ist Europa nicht eine schon immer existierende Einheit, die es nur wiederzubeleben gilt, sondern ein möglicher Ordnungsentwurf. Genauer müsste man sogar sagen, es handelt sich um eine Abfolge und Übereinanderschichtung von semantisch aufeinander aufbauenden Ordnungsentwürfen. Europa ist nicht einfach eine »Erfindung« oder eine »erfundene Tradition«, wie radikale Konstruktivisten nach unzulänglicher Lektüre von Hobsbawm und Ranger meinten, aber es ist auch nicht eine gegebene Entität. Sie zu essentialisieren, als angeblich naturgegeben vorzustellen, gehört vielmehr zu den Praktiken, mit denen Europa als Ordnungsentwurf historisch in wechselnden Konstellationen und von wechselnden Protagonisten durchgesetzt werden sollte.[16]
Dies scheint mir der Grund, warum sich derzeit das Interesse von der Rekonstruktion dessen, was in einem vorgestellten Container namens Europa stattfand, verlagert auf Akteure und kulturelle Praktiken, die bei den verschiedenen Stufen der Konstruktion Europas beobachtet werden können. Statt Geschichte Europas jetzt also Geschichte der Europäisierung.[17]
Dies ist eine kulturgeschichtliche Wendung innerhalb der europäischen Geschichte, aber sie bleibt analytisch stumpf, wenn sie sich auf die Darstellung von kulturellen Manifestationen beschränkt und nicht zugleich nach deren sozialer Reichweite und politischer Durchsetzungskraft fragt.[18]
Kommen wir zu einigen Feldern, die sich in den letzten 10–15 Jahren für eine Geschichte der Europäisierung als besonders ertragreich erwiesen haben.
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2.3. Forschungsfelder einer Geschichte der Europäisierung
2.3.1. Wurzeln der Territorialisierung / Verräumlichung in Europa
Für eine europäische Geschichte erweist sich zunächst der Rückblick auf die Frühe Neuzeit als hilfreich, in der sich die Vorstellungen vom Raum als homogener Fläche mit scharfen Grenzen (in Linienform) erst herausbildeten. Sie hatten ihre Grundlagen in der eigentums- und landesrechtlichen Homogenisierung zum frühneuzeitlichen Territorialstaat / Absolutismus im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert – einer europäischen Besonderheit mit Wurzeln in der mittelalterlichen Rechts- und Wirtschaftsordnung.[19]
Einsprachigkeit in Teilen Europas hat diesen Prozess seit dem französischen Dekret von Villers Cotterets 1539 beflügelt, ebenso die Schaffung zentraler kultureller Institutionen wie etwa der französischen Akademien, denen sich bald Provinzakademien zugesellten, die den kulturell homogen gedachten Raum weiter erschlossen. Dieses Modell wurde aufgrund der Hegemonie Frankreichs im 18. Jahrhundert zur Leitvorstellung für den Kontinent. Aber auch die Grenzen Frankreichs wandelten sich nur über mehrere Jahrhunderte zu »natürlichen Grenzen«, und die Eindeutigkeit der Grenze als Linie und des Territoriums als zusammenhängende Fläche hat sich anderswo in Europa noch langsamer oder gar nicht vollständig durchgesetzt.[20] Der Versuch, dieses Modell der Territorialisierung auf ethnisch gemischte Gesellschaften in Ostmittel- und Südosteuropa auszudehnen, hat nach dem Ersten Weltkrieg einen Zyklus von Zwangsmigrationen ausgelöst, dessen katastrophische Folgen die europäische Geschichte tief geprägt haben und bis heute beschäftigen.[21] icht zufällig kommen aus den Historiographien des europäischen Südostens vermehrt Wortmeldungen, die Empire-Strukturen wegen ihrer geringeren Eindeutigkeit von Grenzen und territorialen Zugehörigkeiten nicht allein als europäische Vergangenheit behandeln wollen. Auch unter dem Eindruck der nordamerikanischen Empire-Debatte stärkt sich gegenwärtig das Interesse an der imperialen Vergangenheit Europas.[22]
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2.3.2. Portale zur außereuropäischen Welt
Zu den Territorialisierungsmustern der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts gehört auch die Portalfunktion einiger Metropolen: Städte wie London und Paris trugen die Last und Lust der Lernprozesse, die sich aus dem Kontakt mit Außereuropa ergaben: Einwanderung, exotische Gesandtschaften, Ausbildung von Kolonialbeamten und eine vielfältige intellektuelle Szene, Bahnhöfe und später Mega-Flughäfen gehören ebenso dazu wie Börsen und Warenhäuser mit global zusammengezogenem Angebot. Diese Geschichte ist an sich schon spannend, aber sie erhält ihren zusätzlichen Reiz aus der Tatsache, dass diese Städte heute nach wie vor Metropolen sind, aber ihre Portalfunktion langsam entfällt: der Kontakt zur außereuropäischen Welt ist heute aufgrund Migration, Fernsehen und standardisiertem Angebot der shopping malls auch in den kleineren Orten omnipräsent, ohne dass die kulturellen Apparate bereits an diese neue Lage angepasst wären, wie nicht zuletzt die Bemühungen um die Reform des Schulunterrichts zeigen.
Die Mitte der 1980er Jahre in Frankreich entstandene Kulturtransferforschung hat das traditionsreiche Feld der Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte erneuert.[23] Die zentrale These lautet: Das Gelingen kultureller Transfers hängt nicht vom Einfluss des Ursprungskontextes, sondern von der Motivation und Aufnahmebereitschaft in der Rezeptionskultur ab. Von hier aus hat sich eine reiche empirische Forschung entwickelt, die sich auf den Transfer von Personen, Ideen und Gütern sowie ihre (Um-)Deutung beziehen. Einige allgemeinere Momente für das Verständnis europäischer Geschichte seien genannt:
- Kulturen werden nicht per se als nationale (oder protonationale) angenommen, sondern ihre Entstehung im Austausch wird konkret beobachtet und beschrieben.
- Während in der Frühen Neuzeit transkulturelle Netzwerke der Fernhändler, Söldner, Kunstmakler und Bildungseliten neben stärker territorialisierten Formen von Kultur (Höfe und Kirchen) standen, wurde am Ende des 18. Jahrhunderts ein Bruch spürbar: Die Aneignungsprozesse bezogen sich nun mehr und mehr auf nationalisierte Kulturen.
- Es zeigt sich ein gravierender Unterschied zwischen der Ära des Elitennationalismus (etwa: vor 1850) und der Zeit des Massennationalismus (nach 1850/70). Er besteht darin, dass kulturelle Transfers in der Zeit des scharf nach außen abgrenzenden Massennationalismus zwar weiterhin stattfinden, aber ihre Ergebnisse häufig nicht mehr als Fremdes zu erkennen sind, sondern faktisch »zum Verschwinden gebracht werden«.
- Bestimmte Regionen, die man als europäische Regionen bezeichnen könnte, erhalten ihre Spezifik dadurch, dass sie auch in Zeiten einer zugespitzten Nationalisierung ältere Kulturtransfers reaktualisieren und neue forcieren. Die Kulturtransferforschung zeigt die Alternativen zur Nationalisierung in der europäischen Geschichte.[24]
Die Transferforschung macht systematische Vergleiche natürlich nicht obsolet, aber sie hat kritisch darauf hingewiesen, dass die Komparatistik Gefahr läuft, die von ihr konstruierten Vergleichsentitäten zu ontologisieren. Man kann als Faustregel formulieren, je moderner Gesellschaften werden, desto größer wird die Bedeutung von Transfers und Verflechtungen, und desto problematischer wird der rein kontrastive Vergleich, worauf noch zurückzukommen sein wird.
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2.3.4. Die Rolle transnationaler Gruppen in der europäischen Geschichte
Dan Diner verweist mit Nachdruck auf eine Besonderheit aus der Geschichte der europäischen Juden, ihre Transnationalität, die in ausgebliebener Territorialisierung beim Übergang zur Moderne und gleichzeitiger enger religiös-textueller Verbundenheit über territoriale Grenzen hinweg begründet liegt. Man kann diese Transnationalität über die Krisen des 19. und 20. Jahrhunderts, von den verschiedenen zionistischen Bemühungen, einen Raum für die Judenheit zu definieren, bis zur brutalen Vertreibung und Vernichtung der Juden verfolgen, aber auch, wie Diner es versucht, sie als konstitutives Teilparadigma europäischer Geschichte auffassen: »Dem übernational markierten sozialen und mentalen Gewebe jüdischer Lebenswelten kommt im Laufe tektonischer Verschiebungen europäischer Geschichte in der Moderne seismographische Bedeutung zu«.[25]
Fließen vormoderne Verräumlichungsmuster stärker in den Europäisierungsprozess ein als dies aus westeuropäischer Perspektive zunächst vermutet wurde? Dies ist die Frage, die Diner an die Untersuchung der osteuropäischen Juden anschließt und die trotz der Essays zum Imperienvergleich ihrer Beantwortung noch harrt. Hier schließt europäische Geschichte als Migrationsgeschichte an, die die Dimensionen des Transnationalen und der kulturellen Transfers verbindet, aber auch zu einer Geschichte führt, die supranationale Interventionen in den nationalen Umgang mit Minderheiten als Charakteristikum Europas herauspräpariert.[26]
Die erfolgreiche Nationalisierung in Westeuropa und später die Blockbildung des Kalten Krieges führte in vielen Zonen Europas zu einer Auseinandersetzung mit den Fremdzuschreibungen und dem Versuch einer supraregionalen Homogenisierung. Ostmitteleuropa, der Balkan, die Levante usw.[27] – es handelt sich hier um Großregionalisierungen, die beispielsweise ihre Wurzel im Panslawismus schon 1848/49 bei Jan Palacký haben und auf dem Internationalen Historikerkongress 1923 in Brüssel erstmals in die Frage »Monde Slave ou Europe Orientale?« mündeten. »Mitteleuropa« oder auch der »Skandinavismus« sind weitere prominente Beispiele solcher Geschichtsregionen. Seit Maria Todorovas brillanter Untersuchung von Konstruktion und Dekonstruktion des »Balkans« ist klar, dass eine Essentialisierung dieser Geschichtsregionen durch die Betonung struktureller Kontinuitäten das Thema verfehlt. Geschichtsregionen sind postulierte Gemeinsamkeiten im Verhältnis zu Europa unter Rückverweis auf geteilte geschichtliche Erfahrungen und sie sind zuweilen nützliche Interessenaggregationen, die durch die Beschwörung einer gemeinsamen Geschichte zusammengehalten werden. Zu einer Geschichte der Europäisierung gehört also auch eine Vermessung der Gedächtnislandkarte, der mental map des erinnerten Europas.
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2.3.6. Nach 1989: Renationalisierung, Reregionalisierung oder Europäisierung?
Die Befreiung vom Druck der Blöcke und der supranationalen multiethnischen Reiche Sowjetunion und Jugoslawien haben, wie schon 1918 nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches und 1944/45 nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches, ein nation-building angetrieben, das teilweise von außen angestachelt wurde. Friedliche Entflechtungen wie in der Tschechoslowakei sind der Ausnahmefall, offen kriegerische Auseinandersetzungen wie beim Zerfall Jugoslawiens allerdings ebenfalls. Der Regelfall sind spannungsreiche Separierungen, für die die Mobilisierung von Ressourcen nationalistischer Leidenschaft charakteristisch ist. Die neuen Territorialisierungen von Herrschaft, Wirtschaft und Kultur bzw. Lebenswelten erweisen sich als außerordentlich schwierig und instabil, wofür m.E. vor allem folgende Gründe maßgeblich sind:
Träger des nation-building sind fast überall überkommene bürokratische Eliten, die primär ein Interesse an den Umverteilungsmechanismen des Staates (rent-seeking) haben, Konkurrenten ausschalten und durch das Erreichen von Eigenstaatlichkeit direkt an externe Subventionen gelangen wollten. Demzufolge spielen der Ausbau der Infrastruktur und die Interessen von neuen Wirtschaftseliten eine nachgeordnete Rolle.
Der Osten Europas erlebt im Zeitraffer jenes Wiederaufleben des Regionalismus, das in Westeuropa seit den 1960er Jahren zu beobachten ist, aber der Nationalstaat erweist sich oft als zu schwach, um das Umschlagen der Regionalisierung in Separatismus zu verhindern, auch, weil er (wie im Falle der Nachfolgestaaten Jugoslawiens oder der Sowjetunion) selbst auf eine Ideologie des Sezessionismus gegründet ist.
Schließlich hat die Aussicht auf einen Beitritt zur EU ihrerseits Nationalisierungstendenzen befördert: im Wettbewerb der Beitrittskandidaten und in einer Abgrenzung von der früheren östlichen Vormacht, die nationalistische Traditionen wieder belebt hat. Zugleich zeigt die Dynamik des Erweiterungsprozesses,[28] dass diese Versuche, eine Balance zwischen den Raumordnungen der Europäisierung und der Nationalisierung zu finden, extrem fragil sind und durch die nächste Beitrittswelle bereits wieder erschüttert werden können.
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Bleibt zum Schluss die Frage nach dem Stand der Europäisierung: Hartmut Kaelble hat eine Bilanz vorgelegt, die an den Kriterien Institutionalisierung, Legitimität und Öffentlichkeit ausgerichtet ist und das Glas für halb voll erklärt: Die EU-Europäisierung auf dem Wege, Anlass zu verhaltenem Optimismus, der dann bei den nächsten Wahlen wieder enttäuscht wird. Unzweifelhaft aber sind die europäischen Institutionen in den 1990er Jahren immer wichtiger geworden.
Dagegen hat Karl Schlögel auf eine Europäisierung »von unten« aufmerksam gemacht, die auf den Ameisenpfaden der LKW-Fahrer, Schmuggler und Billig-Airlines zustande komme und deren Geographie wir zu lernen hätten. Von hier ist es nicht weit bis zur Europäisierung, die gewissermaßen im Handgepäck der Globalisierung von Marken und Produkten, von Stilen und Lebensformen mitreist, aber durch die zusätzliche Sinnaufladung zur Europäisierung umgedeutet werden kann.
Schließlich hat die Europäisierung von oben im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eine weitere Pointe im »Spiel mit den räumlichen Maßstäben – dem jeu d’échelles«[29] bereitgehalten: Um die Subventionen der Strukturfonds angemessen verteilen zu können, wurden die neuen EU-Mitglieder zur Schaffung neuer regionaler Substrukturen gezwungen, die nach Größe und Bedürftigkeit in die Bandbreite der westlichen Vorbilder passten – mit dem absehbaren Effekt heftiger mentaler Kollisionen in der Bevölkerung, die gerade jene Raumkonstrukte erodieren lassen, auf die sich die europäische Ressourcenumverteilung stützen will.
EU-Europa erweist sich als unentschieden, es benötigt als gleichzeitig supra- und inter-nationale Struktur Nationalstaaten und Regionen als Basiselemente und schafft sie, wo sie nicht stabil existieren. Die Europäisierung macht sie gleichzeitig porös durch supranationale Strukturen von der Bildung über die Wirtschaft und Regionalförderung bis zur Gesetzgebung.
Europäische Geschichten lassen sich entlang vieler Leitlinien erzählen. Aber der spatial turn hat uns die Rolle des Raumes für die Erklärung vieler Konflikte in Europa vor Augen geführt.
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Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, produziert die Suche nach einer Geschichte der Europäisierung den Bedarf nach neuen methodologischen Grundlagen der Geschichtsschreibung. Diese kollidieren mit der Erbschaft der Nationalgeschichtsschreibung.
Zugleich kommt eine teilweise parallele, teilweise konterkarierende Inspiration aus der Diskussion um die Geschichte der Globalisierung.
3.1. Wurzeln der Debatte um die transnationale Geschichte
Ein erster Abschnitt des Versuches der Überwindung rein nationalstaatlicher Geschichtsbilder wurde mit der historischen Komparatistik unternommen. Diese ist in den lebensweltlichen Erfahrungen gut verankert und erscheint deshalb besonders einleuchtend. Der historische Vergleich war für lange Zeit das vorherrschende Muster zum Umgang (Messen und Begrenzen) mit kultureller Differenz zu Ausländern, dem sozial Anderen und den Menschen, die in der Vergangenheit lebten. Aus dem Vergleich leitete sich ein Prognoseversprechen ab.
Die Kulturtransfer-Debatte Anfang der 1990er Jahre hat die Gewissheiten der historischen Komparatistik erschüttert[30]: Sie berief sich darauf, dass die Klassiker des Vergleichs wie etwa Marc Bloch in seinem Vortrag auf dem Welthistorikerkongress in Oslo 1928 keineswegs den in der Historischen Sozialwissenschaft betriebenen kontrastiven Vergleich vorgeschlagen und praktiziert haben, sondern kulturelle Transfers in ihrer Theoriebildung berücksichtigten. Es gibt also nicht eine, sondern mehrere Formen des historischen Vergleichs.[31] Der kontrastive Vergleich konstruiert seine Objekte mehr, als dass er sie analysiert – die Versprechen dieser Form des Vergleichs, nationalgeschichtliche Paradigmen zu überwinden, bleiben deshalb uneingelöst[32]. Der kontrastive Vergleich erweist sich mehr als Teil eines abgrenzenden Identifizierungsprozesses und wurde bedeutsamer in dem Maße, wie das nationalgeschichtliche Paradigma sich modernisieren musste. Mit Denkfiguren von »nationalen Sonderwegen« und »nationalen Pfadabhängigkeiten« hat die Historische Sozialwissenschaft mehr zur »Erfindung« von Nationen beigetragen, als in ihren programmatischen Leitsätzen zu erkennen ist.[33]
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Der kontrastive Vergleich isoliert Fälle und Dimensionen historischer Prozesse, um sie kriteriengeleitet vergleichen zu können. Die dabei vorgenommene Dekontextualisierung hat einen hohen Preis – die Vernachlässigung der kulturellen Verbindungen und Verflechtungen, die in der Moderne zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Der Vergleich ist oft exportorientiert und vernachlässigt dabei Perzeption, Umdeutung und Einbau in neue kulturelle Kontexte. Seine Anpassung an die Erfordernisse einer neuen Kulturgeschichte ist ein langwieriger und konfliktreicher Prozess, der gegenwärtig noch anhält.[34] Gleichzeitig bietet der Vergleich von Transferkonstellationen die Möglichkeit zu weiterführenden Einsichten. Die Kritik am Vergleich bedeutet nicht seine Verwerfung, sondern die Überwindung jener Schwächen, die in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung durch die enge Bindung an die Bedürfnisse der Nationalgeschichtsschreibung eingetreten sind.
Die Reaktionen der Komparatisten auf diese Kritik waren gleichermaßen gekennzeichnet durch scharfe Exklusion der neu vorgeschlagenen Methoden und durch deren Inklusion in neue Formen des kulturgeschichtlichen Vergleichs. Dies führte zu einer mäandrierenden Modernisierung des historischen Vergleichs und zur Eröffnung zahlreicher Diskussionsfelder.
Parallel entwickelte sich von den USA ausgehend das neue Feld der Globalgeschichte und World History, in dem einige parallele Vorschläge (Untersuchung von cultural encounters) gemacht wurden, aber auch weiterführende Veränderungen der Narrative ausprobiert wurden.
Es geht nicht mehr darum, die Einheit der Welt, die nach dem Verlust des Paradieses unrettbar verloren scheint, im Kopf der Historiker ersatzweise zu produzieren, sondern vielmehr all jenen sozialen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungen nachzugehen, mit deren Hilfe die Menschen einander näherkommen und diese Einheit mehr und mehr produzieren. Diese Einheit ist folglich auch keine ideale Versammlung aller Individuen im Geiste des Rationalismus, über denen eine Weltregierung interessenfrei die Einhaltung der Regeln des Zusammenlebens überwacht, sondern eine von Herrschaftsstrukturen, Ausbeutung und Ungleichheit durchzogene Einheit, die durch eine permanente Tendenz zur Refragmentierung konterkariert wird. Auf dem erreichten Stand der technologischen Entwicklung, der kommunikativen Vernetzung, der Verbindung der internationalen Waren- und Kapitalströme und der geteilten kulturellen Erfahrungen zwischen immer mehr Menschen scheint diese Einheit jedoch nicht mehr zurücknehmbar. Die Historiker sind auf der Suche nach einer historischen Erklärung dieses Zustandes, nach seiner genaueren Datierung und nach seiner detaillierteren Charakterisierung. Sie lernen dafür, den historischen Akteuren genauer zuzuhören, anstatt deren Handeln in möglichst abstrakte Kategoriensysteme zu sperren. Dies lässt sich auch an den neueren Entwicklungen des zuvor teilweise allein auf systemtheoretischen Höhen schwebenden Ansatzes der Weltgesellschaftstheorie ablesen.[35]
Die Globalgeschichte wird damit immer mehr selbst Teil des Globalisierungsprozesses, dem sie durch dessen Beschreibungen ein Bewusstsein von seiner Historizität gibt.[36] Aber weder ist die Globalgeschichte bereits ein in alle Richtungen gefestigtes Konzept, noch hat sie das Feld der Weltgeschichtsschreibung allein besetzt. Sie gehört vielmehr zu den zahlreichen Varianten, die man auf diesem Feld beobachten kann.[37]
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Schaut man sich die inzwischen weitverzweigte Literatur an[38], dann lassen sich ganz grob heute vier Konzepte unterscheiden.
Das erste Konzept verfolgt den alten Ansatz einer umfassenden Weltgeschichte und versucht sich immer wieder an intellektuell brillanten Ordnungsentwürfen für die gesamte Weltgeschichte mit der Konstruktion von fünftausendjährigen Weltsystemen oder der These vom Übergang imperialer Reiche zum Nationalstaat u.ä. All diese Versuche, die gesamte Weltgeschichte gewissermaßen auf einen Nenner zu bringen, lesen sich eindrucksvoll. Hinter ihnen stecken große intellektuelle Anstrengungen und bewundernswerte Meisterungen des Materials, in aller Regel erweisen sie sich aber als anfällig gegenüber empirischen Rückfragen, warum dann in großen Teilen der Welt dieser zentrale Zusammenhang nicht anzutreffen ist. Diese ältere Weltgeschichte, die man auch Universalgeschichte nennen kann[39], die also nach einem universellen Schlüssel für die Erklärung der gesamten Weltgeschichte sucht, ist in einem Zeitalter der Spezialisierung im Zustand jenes armen Hasen, der von vielen Hunden gehetzt wird und sich immer wieder eingestehen muss, dass die Flucht letztlich über seine Kräfte geht. Als Korrektiv gegenüber einer sich in Kleinteiligkeit verlierenden Forschung hat diese Welt- oder Universalgeschichte noch immer eine bedeutende Funktion, indem sie Hypothesen hervorbringt, die zu prüfen sich lohnt.
Eine zweite Richtung, die in den 1970er und 1980er Jahren weithin dominierte, verband sich mit dem Begriff des Weltsystems und der Weltsystemtheorie. Immanuel Wallerstein, ein Schüler Fernand Braudels in den USA, hat diesen Begriff populär gemacht und eine eindrucksvolle Geschichte der Entwicklung eines nordwesteuropäisch geprägten kapitalistischen Weltsystems vorgelegt, das sich im Zuge seiner Expansion immer größere Teile der Welt unterwirft und zur Peripherie bzw. Halbperipherie des eigenen Weltsystems macht. Damit ist ein qualitativer Wandel etwa um die Mitte des 15. Jahrhunderts eingezogen. Seitdem steht die Welt unter einer europäischen, schließlich auf Nordamerika erweiterten Vorherrschaft.[40] Sie wird integriert durch kapitalistische Marktwirtschaft und die sie begleitenden kulturellen Mechanismen des Liberalismus, des Demokratismus und auch des Konservatismus. Während im Zuge der Beschreibung dieses Prozesses der Unterwerfung von Teilen der Welt unter ein Weltsystem für die Zeit zwischen 1450 und 1820 zahlreiche Evidenzen angeführt worden sind, erweist sich die Interpretation der Zeit nach 1820 in diesem Paradigma offenkundig als schwieriger. Es zeigt sich, dass die Herrschaft eines Systems über den Rest der Welt entweder zeitlich begrenzt war oder eben dadurch als Perspektive überhaupt ermöglicht wurde, dass die Welt noch gar nicht in einem globalen Zusammenhang war und deshalb von einer Herrschaft über große Teile der Welt eigentlich noch keine Rede gewesen sein kann.
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Betrachten wir die Geschichte des Kolonialismus, so entdecken wir vor allem Stützpunkte und kleinere Siedlerkolonien, aber keineswegs bereits eine komplette Durchherrschung der Territorien, die auf den Landkarten europäischer Fürsten bereits komplett in den eigenen Farben ausgemalt waren. So ist auch gegen eine Geschichte des atlantischen Sklavendreiecks, in der Afrika allein die sogenannten Humanressourcen, Amerika den Boden und Europa die intellektuell anspruchsvollste Aufgabe, die Koordination, geliefert habe, zu Recht eingewandt worden, eine solche Perspektive überhöhe unzulässig die Handlungsmacht der Kolonisatoren und reduziere gleichzeitig jene der Nicht-Europäer. Gegenüber einem tradierten eurozentrischen Bild steuerten etwa jene Afrikaner, die sich angesichts der wachsenden Nachfrage aus Europa als Sklavenjäger und –verkäufer professionalisierten, mit ihrem »Angebot« die Preise auf diesem ersten tatsächlich globalisierten Markt in weit stärkerem Maße, als dies in der älteren Darstellungen anerkannt wurde. Auch das Verschwinden der Sklaverei, das in der Literatur häufig allein mit dem religiös motivierten Wandel der Moralvorstellungen in Europa oder der britischen Entdeckung der Vorteile freier Lohnarbeit erklärt wird[41], hat weit mehr mit der Handlungsmacht der Menschen an Wallersteins Peripherie zu tun: die erfolgreiche Sklavenrevolution auf Saint Domingue brach den produktivsten Eckstein aus dem System der Plantagenwirtschaft[42], und Simon Bolívar musste nach den Niederlagen gegen die Spanier bis 1815 in seinem berühmten Brief aus Jamaika konzedieren, dass ohne Beachtung der ethnischen Dimension in der Independencia (also ohne wenigstens partielle Befreiung der Sklaven) kein Sieg möglich war.[43] Dies sind nur die auffälligsten Beispiele aus einer breiten Palette von Literatur, die sich aus dem relativ starren Korsett der Dependencia-Theorie befreit hat und die zentrale Rolle der Gesellschaften außerhalb der core-region in Nordwesteuropa betont, wenn es um den Übergang zur Moderne geht.
So hat sich eine dritte Auffassung etabliert, die eine relativ starke Zäsur im ersten oder zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts annimmt.[44] Diese hängt mit der Industrialisierung und mit den großen Migrationsschüben[45] zusammen, die im 19. Jahrhundert zu beobachten sind. Die Zäsur hat mit dem technologischen Wandel, mit der Kommunikationsrevolution zu tun, die Telegraphen und später auch kabelgestützte Kommunikation mit sich brachten.[46] So zeigt sich, dass die Differenzen, die den gewaltigen Vorsprung des Westens bei der Nutzung der Industrialisierung verursachen, nicht in historisch weit zurückliegenden Phasen zu suchen sind, sondern eher in einem Bündel von Faktoren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtbar wurden.[47] Sind diese Unterschiede allerdings so vergleichsweise jungen Datums (was etwa die auf Max Weber zurückgehende Herleitung der europäisch-asiatischen Differenz aus mittelalterlichen Verhältnissen zurückweist), dann besteht auch kein Anlass, sie für ein auf ewig geschlossenes Strukturgefängnis zu halten. Ein unleugbarer Vorsprung bei Einführung und Gebrauch neuer, weit produktiverer Technologien, der sich in so kurzer Zeit aufbaute und seinen Ausdruck nicht zuletzt auch in überlegenen Waffensystemen fand, kann in ebenso kurzer Zeit auch wieder aufgeholt werden. Ein Blick auf gegenwärtige Sorgen in Europa vor diesem Aufholprozess belehrt uns, dass diese Einsicht sich inzwischen öffentlich Bahn bricht – eine klare Differenz zu den weltgeschichtlichen Betrachtungen um 1900, als nur wenige Europäer eine solche Perspektive antizipieren konnten.
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Michael Geyer und Charles Bright haben darüber hinaus argumentiert, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch eine ganz erstaunliche Verdichtung von sozialen Konflikten weltweit zu beobachten sei, wobei diese sozialen Konflikte, die zur Bildung von Nationalstaaten, zu Revolutionen, zu Bürgerkriegen, zu gewaltigen militärischen Eruptionen wie dem Krimkrieg führten, durch zwei Gesichtspunkte gekennzeichnet seien: Erstens belegen sie, dass in dieser Zeit erstmals die Entwicklungschancen der einzelnen Territorien davon abhingen, inwieweit sie sich in einen globalen Zusammenhang hineinbegaben. Der globale Zusammenhang wird gerade dadurch kreiert, dass in vielen Teilen der Welt historische Akteure den Eindruck gewannen, sie müssten sich in diesen Zusammenhang einfügen, um die Entwicklungschancen ihres eigenen Territoriums zu erhöhen. Dies war zweitens begleitet von einer Suche nach Autonomie, nach Eigenständigkeit bei der Bestimmung der Regeln dieses globalen Zusammenhangs. Es geht also nicht schlechthin um die Verflechtung zu einer Weltgeschichte, die immer dichter wird und die schließlich in einer Weltregierung kulminiert, sondern es geht darum, dass verschiedene Akteure den globalen Zusammenhang zu ihren Bedingungen nutzen wollen und deshalb eine Dialektik von Verflechtung und Autonomisierung bzw. Souveränitätsstreben einsetzen.
Eine vierte Schule schließlich, die von Bruce Mazlish angeführt wird[48] und inzwischen unter dem Titel der new global history firmiert[49], besteht auf dem Zäsurcharakter des Jahres 1945, wobei vor allen Dingen auf den ersten Atombombenabwurf im August 1945 verwiesen wird. Damit ist das nukleare Zeitalter angebrochen, später fügen sich dem neue Kommunikationstechnologien und vor allen Dingen auch ökologische Probleme und Zusammenhänge an, die alle dazu führen, dass kein Staat, keine Gesellschaft mehr in Selbständigkeit die aufgetretenen Probleme bewältigen kann. Mazlish führt für seine These von einem neuen globalen Zusammenhang die Abhängigkeit aller Staaten von internationalen Rohstoffreserven, vom internationalen Warenverkehr und von der Lösung eben jener existentiellen humanitären Probleme an, die mit Atomkraft, Internet und ökologischer Verwüstung bezeichnet sind. Diese Richtung in der neueren Weltgeschichtsschreibung konzentriert sich auch auf die Herausbildung transnational agierender Akteure und betont diese als ein neues Phänomen in den letzten sechzig Jahren.[50]
Ganz unabhängig davon, wo die Zäsur gezogen wird, zeigt sich zwischen den ersten beiden und den letzten beiden Ansätzen ein gravierender Unterschied. Während die eine Gruppe davon ausgeht, dass sich gewissermaßen ein Sinn der Weltgeschichte immer stärker durchsetzt und von daher die Welt entschlüsselt werden kann, betont die zweite Richtung in präsentistischer Weise die Kontingenz der globalen Entwicklungen und die Vielfalt der Akteure, die überhaupt erst diesen globalen Zusammenhang herstellen.
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3.2. Die Debatten zur transnationalen Geschichte in der deutschen Historiographie
In einem relativ kurzen Zeitraum (1998–2005) hat es in der deutschen Historiographie eine sehr breite Rezeption der unterschiedlichen Anregungen gegeben, die sich in zahlreichen Debatten niederschlugen, welche jeweils in einzelnen Fachorganen geführt wurden[51]:
- Wie kann man die Begrenzungen der Nationalgeschichte von innen heraus aufheben, durch verstärkte Einbeziehung der Kolonialgeschichte und der Geschichte europäischer Nachbarländer in West wie Ost? (Geschichte und Gesellschaft 1998–2000)
- Welche Folgen hätte eine Aufhebung der scharfen Begrenzung zwischen allgemeiner und osteuropäischer Geschichte? (Osteuropa 1994–5)
- Wie kann man die neuen Ansätze der Kulturtransferforschung mit denen der Welt- und Globalgeschichtsforschung und den Anregungen der Area Studies verknüpfen? (geschichte.transnational 2004–5)
- Wie kann man den Cultural Studies und den Kulturwissenschaften eine stärker transnationale Ausrichtung geben? (H-German 2006)
Dabei haben sich einige Charakteristika der transnationalen Geschichte herausgeschält:
- die Grundannahme, es gebe eine Geschichte jenseits des Nationalstaates,
- eine Konzentration auf die Untersuchung von Akteuren, Bewegungen und Kräften, die Grenzen überschreiten und quer zur Herstellung der Nationen stehen. Dies führt zu globalen oder jedenfalls den nationalen Horizont übersteigenden Denk- und Handlungsmustern.
- die geteilte Annahme, dass Modernität nicht allein der Nationalisierung entspringt, sondern ihre Wurzeln gleichermaßen in transnationalen Verflechtungen hat,
- ein gemeinsamer Sinn für Offenheit, Pluralität der Ansätze und Experimentierfreude,
- die Erfahrung einer transnationalen Praxis von Forschernetzwerken, Webdiskussionsgruppen usw.,
- eine gewisse Solidarität gegen die zuweilen heftigen Attacken einer älteren Generation von Historikern, sodass zumindest die Frage aufgeworfen werden kann, ob es sich nicht auch um ein Generationenprojekt handelt.
- Es gibt zwar ein intensives Bemühen um die Rekonstruktion früherer Spuren transnationaler Ansätze[52], aber eine engere Definition wird offen abgelehnt oder jedenfalls für den Moment nicht für vordringlich gehalten.
- Transnationale Geschichte reiht sich ein in die Gruppe der poststrukturalistischen Ansätze: Sie betont ihren Sinn für Agency als (relative) Kapazität von Individuen und Gruppen zu handeln; die Inspiration aus der microstoria der 1980er Jahre ist ebenso unverkennbar wie die Verknüpfung mit der Idee des »jeux d’échelle«, den Ergebnissen aus der Diskussion um den spatial turn und um die Brauchbarkeit postkolonialer Ansätze.
- Es handelt sich auch um einen neuen Weg, historischen Wandel zu denken: der Nationalstaat wird nicht länger als Container behandelt, in dem sich aller Wandel vollzieht. Vielmehr gilt die Aufmerksamkeit vermehrt den »clashing worlds« oder »Bruchzonen der Globalisierung«. Dies zieht die theoretische Schlussfolgerung aus der doppelten Tatsache, dass sowohl die Konvergenz aller historischen Entwicklungen in einem Schema der Modernität als auch der Rückzug aus den globalen Verflechtungen gescheitert sind.
Als Felder empirischer Forschung haben sich in den letzten Jahren vor allem die folgenden erwiesen: Migration, Diaspora und transnationale Räume; Imperialgeschichte mit der Verflechtung von Kolonisierern und Kolonisierten; transnationale Strukturen und Institutionen (Katholische Kirche, transnationale Unternehmen, NGOs usw.); transnationale Interaktionen in politischen Ereignissen; Wahrnehmungen des Anderen und die Rolle des Vergleichs durch historische Akteure als ein Mittel der Fokussierung von Aufmerksamkeit auf bestimmte aneignungswürdige Aspekte in fremden Kulturen.
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4. Das Verhältnis von nationaler, transnationaler und europäischer Geschichte
Unleugbar gibt es Zusammenhänge zwischen diesen drei Feldern, wie sich aus dem Vergleich der voranstehenden Abschnitte bereits ergibt. Allerdings zeigt sich auch, dass die Mehrheit der auf die Nation fixiert bleibenden Historiker leichter mit einer europäischen Geschichte, die die EU als Nachbildung des klassischen Nationalstaatsmodells konzipiert, umgehen kann als mit den poststrukturalistischen Ansätzen einer transnationalen Geschichte, die wiederum den Übergängen zu einer Geschichte von Europäisierungsprozessen näher steht.
Diese verschiedenen Koalitionen werden sich in den nächsten Jahren vermutlich weiter ausprägen. Die Prognose scheint nicht allzu gewagt, dass einerseits der Bereich der europäischen Geschichte einen institutionellen Ausbau erfahren wird und dass andererseits der Riss zwischen nationaler und transnationaler Betrachtung der neueren Geschichte mitten durch dieses Feld der europäischen Geschichte hindurch gehen wird.
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[*] Matthias Middell, Prof. Dr., Institut für Kulturwissenschaften (Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte), Universität Leipzig, Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Zentrums für Höhere Studien.
[1] Berger / Lorenz, National narratives and their ›others‹ 2006.
[2] Maier, Consigning the 20th Century to History 2000; zur Anwendbarkeit dieses Konzeptes vgl. auch Engel / Middell, Bruchzonen der Globalisierung, globalen Krisen und Territorialitätsregimes 2005.
[3] Zusammenfassend Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme 2003.
[4] Geyer / Middell, Weltgeschichte vor den Herausforderungen der Globalisierung 1998; Manning, Navigating World History 2003; Grandner u.a., Globalisierung und Globalgeschichte 2005.
[5] So argumentiert beispielsweise Rojas, Fernand Braudel und die modernen Sozialwissenschaften 1999, bezüglich der dominanten Stellung der Annales-Schule im 20. Jahrhundert.
[6] Petri / Siegrist, Probleme und Perspektiven der Europa-Historiographie 2004.
[7] Woolf, The construction of a European world-view in the Revolutionary Napoleonic Years 1992.
[8] Hohls u.a., Europa und die Europäer 2005.
[9] Kaelble u.a, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert 2002; Kaelble, The European Way 2004.
[10] Hudemann u.a., Europa im Blick der Historiker 1995.
[11] Fontana, Europa im Spiegel 1995.
[12] Middell, Eurpäische Geschichte oder global history 2002; Pécout, Penser les frontières de l’Europe du XIXe au XXIe siècle 2004.
[13] Wolff, Inventing Eastern Europe 1995.
[14] Stourzh, Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung 2002.
[15] Vgl. dazu Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes 1998; Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit 2003; Middell, Die konstruktivistische Wende, der spatial turn und das Interesse für die Globalisierung in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft 2006.
[16] Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem 2001; Frevert, Europeanizing German History 2005.
[17] Kaelble, Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart 2007; Jarausch / Lindenberger, Thinking Europe 2007.
[18] Rietbergen, A Cultural History of Europe 1998.
[19] Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt 1975.
[20] Sahlins, Natural Frontiers Revisited 1990; Marchal, Grenzen und Raumvorstellungen vom 11. bis 20. Jahrhundert 1996.
[21] Mazower, Der dunkle Kontinent 2000.
[22] Charle, La crise des sociétés impériales 2002.
[23] Espagne, Les transferts culturels franco-allemands 1999.
[24] Middell, Vergleich und Kulturtransfer 2000; Kaelble / Schriewer, Vergleich und Transfer 2003.
[25] Diner, Geschichte der Juden 2003, S. 247.
[26] Harmsen / Wilson, Europeanization 2000.
[27] Troebst, Geschichtsregionen 2003.
[28] Vobruba, Die Dynamik Europas 2005.
[29] Revel, Jeux d’échelles 1996.
[30] Middell, Vergleich und Kulturtransfer 2000; Osterhammel, Transferanalyse und Vergleich im Fernverhältnis 2003; Siegrist, Transnationale Geschichte als Herausforderung der wissenschaftlichen Historiographie 2007.
[31] Kaelble, Der historische Vergleich 1999.
[32] Espagne, Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle 1994.
[33] Welskopp, Identität ex negativo 2002.
[34] Siegrist, Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft 2003.
[35] Heintz u.a., Weltgesellschaft 2005; Meyer, Weltkultur 2005.
[36] Osterhammel / Petersson, Geschichte der Globalisierung 2003.
[37] Manning, Navigating World History 2003; Middell, Universalgeschichte, Weltgeschichte, Globalgeschichte, Geschichte der Globalisierung 2005.
[38] Costello, World Historians and their Goals 1993; Blaut, The Colonizer’s Model of the World 1993; Stearns, Meaning over Memory 1993; Stuchtey / Fuchs, Writing World History 2003; Fuchs / Middell, Teaching World History 2006.
[39] Giesen / Junge, Der Mythos des Universalismus 1996.
[40] Wallerstein, Das moderne Weltsystem I–III 1986–2004; Nolte, Die eine Welt 1985.
[41] Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens 2000.
[42] Gaspar / Geggus, A Turbulent Time 1997; Geggus, The Impact of the Haitian Revolution in the Atlantic World 2001, Haitian Revolutionary Studies 2002.
[43] Kossok, In Tyrannos 1989, S. 268.
[44] Bayly, The Birth of the Modern World 2004.
[45] Hatton / Williamson, Migration and the International Labor Market 1850–1939, 1994; Wang, Global History and Migrations 1997; McKeown, Global Migration 1846–1940, 2004.
[46] Hugill, Global Communication since 1844, 1999; Headrick, The Tentacles of Progress 1988, The Invisible Weapon 1991, When Information came of Age 2000.
[47] O’Brien, Langfristiges ökonomisches Wachstum in der Weltgeschichte 2002; Vries, Are Coal and Colonies Really Crucial? 2001, Governing Growth 2002.
[48] Mazlish / Buultjens, Conceptualizing Global History 1993; Mazlish, Comparing Global History to World History 1998.
[49] Schäfer, The New Global History 2003.
[50] Iriye, Cultural Internationalism and World Order 1997; Guarnizo / Smith, Transnationalism from Below 1998; Chandler / Mazlish, Leviathans 2005.
[51] Vgl. für eine ausführlichere Darstellung und Dokumentation dieser Debatten: Middell, Transnationale Geschichte als transnationale Praxis 2007.
[52] Patel, Transnationale Geschichte 2004.
ZITIEREMPFEHLUNG
Matthias Middell, Das Verhältnis von nationaler, transnationaler und europäischer Geschichtsschreibung, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 96–116.
URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.
URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.
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