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Ulrich Wyrwa *
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Inhaltsverzeichnis |
Gliederung: Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Zitierempfehlung
Text:
»Europa schreitet vorwärts, das ist der Trost bei solchem Jammer!« schrieb Isaak Markus Jost angesichts der Lage der Juden in Osteuropa in der Mitte des 19. Jahrhunderts, jener Autor, der als erster jüdischer Historiker seit Flavius Josephus’ antikem Werk eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Juden von den Anfängen bis zur Gegenwart vorlegt hatte.[1] Heinrich Graetz wiederum, der mit seiner elfbändigen Universalgeschichte der Juden zum spiritus rector der jüdischen Geschichtsschreibung in Europa wurde, zitierte in seinem Werk einen im 16. Jahrhundert aus Portugal geflohenen Juden: »Und Europa, Europa, meine Hölle auf Erden!«[2] Und Simon Dubnow schließlich, der eine ganz neue national-jüdische Sicht von der jüdischen Geschichte entwarf und für die Autonomie der Juden in Osteuropa eintrat, fragte sich in seinem Tagebuch von 1925, nachdem er die Schrecken des Ersten Weltkrieges erlebt hatte und Zeuge der ersten Friedensverhandlungen in Europa geworden war, ob er wohl »den Beginn der Vereinigten Staaten Europas noch erleben« werde. »Natürlich nicht«, so sein resignierter Nachsatz.[3]
Und doch hatte Dubnow jede »Lossagung von Europa« kritisiert und seinen zionistischen Zeitgenossen entgegengehalten, dass »die jüdische Diaspora ein historisches Anrecht auf ein Leben in Europa« habe.[4] Tatsächlich lebten im 19. Jahrhundert gut 80% der jüdischen Weltbevölkerung in Europa, und seinen Höhepunkt erfuhr die jüdische Präsenz auf dem ›alten Kontinent‹ zu Beginn der 1880er Jahre, als nahezu 90% aller Juden Europäer waren.[5] Trotz dieser Dominanz Europas in der jüdischen Geschichte ist bisher kaum gefragt worden, was Europa für die zeitgenössischen Juden bedeutete und welches Bild von Europa in der jüdischen Geschichtsschreibung entworfen wurde.
Im Folgenden sollen drei unterschiedliche Vorstellungen von Europa in der jüdischen Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts skizziert werden, wobei diese Bilder jedoch nicht scharf voneinander zu trennen sind, sondern mitunter ineinander übergehen und sich gelegentlich auch überlagern.[6] Herangezogen werden dazu in erste Linie Werke der jüdischen Geschichtsschreibung im engeren Sinne, also Texte jüdischer Historiker zur Geschichte der Juden selbst, zugleich sollen aber auch Schriften jüdischer Historiker berücksichtigt werden, die nicht dezidiert zur Geschichte der Juden gearbeitet, sich aber dennoch mit dem Judentum auseinandergesetzt haben. Einbegezogen werden schließlich Schriften jüdischer Intellektueller, die zwar keine wissenschaftliche Ausbildung als Historiker erfahren, sich gleichwohl aber zu historisch-politischen Themen oder zu Fragen der jüdischen Vergangenheit geäußert haben.
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Die Untersuchung der Vorstellungen von Europa in diesem Sample von Texten zeigt, dass Europa in der jüdischen Historiographie erstens als ein Geschichts- und Erfahrungsraum erscheint. Europa wurde als Kontinent mit der größten jüdischen Bevölkerung vorgestellt, in dem durchaus unterschiedliche Formen jüdischen Lebens nebeneinander existierten, die gleichwohl von denjenigen in Asien, beziehungsweise im Orient, oder in Afrika und Amerika unterschieden waren. Zugleich erschien Europa als Raum einer Leidens- und Gelehrtengeschichte der Juden, der mit der Französischen Revolution und dem Projekt der Emanzipation eine Wende erfahren hat.
Davon zu unterscheiden ist zweitens ein zivilisatorischer Begriff von Europa, der auf die kulturelle Rolle Europas und seiner Zivilisation für die jüdische Bevölkerung zielt und der mitunter mit einem Plädoyer für eine Europäisierung der jüdischen Kultur verbunden ist.
Drittens schließlich lässt sich in der jüdischen Geschichtsschreibung auch ein emphatischer Begriff von Europa ausmachen, jener Begriff, der semantisch mit der Formulierung dessen, was als ›Europagedanke‹ bezeichnet wird, verknüpft ist, wobei dieser auf eine europäische Einigung zielende Begriff im jüdischen Kontext mitunter auch auf die besondere Rolle zielte, die die europäischen Juden für Europa und in der Herausbildung der europäischen Zivilisation gespielt haben.
I.
Exemplarisch zeigt sich die Vorstellung von Europa als einem Geschichts- und Erfahrungsraum, Ort der Leidens- und Gelehrtengeschichte sowie dem wichtigsten Siedlungsgebiet der Juden seit dem Ausgang der Antike, im Werk von Heinrich Graetz. Schon in den ersten Bänden seiner Geschichte der Juden führte Graetz aus, wie sich zunächst Asien, Afrika und Europa gegenüberstanden.[7] Eine Geschichte »im eigentlichen Sinne des Wortes« hätten die Juden in Europa erst seit dem 6. Jahrhundert, als »sie durch das Zusammentreffen günstiger Umstände ihre Kräfte entwickeln konnten und Leistungen hervorbrachten, wodurch sie ihren Brüdern im Orient den Vorrang streitig machten«.[8] In der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts seien die Juden Europas »aus dem Dunkel« herausgetreten, während sich gleichzeitig der Mittelpunkt der allgemeinen Geschichte nach West-Europa verlagert habe.[9] Mit dem Untergang des karolingischen Reiches wurde Europa jedoch erneut von Anarchie zersetzt und von »fanatischen Geistlichen« beherrscht,[10] und die Kreuzzüge, in deren Zusammenhang Graetz auch von einem Kampf zwischen Europa und Asien, zwischen dem Christentum und dem Islam, spricht, hätten in die Geschichte der Juden »ein bluttriefendes Blatt« eingefügt.[11]
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In Asien lebten im 12. Jahrhundert zwar noch immer mehr Juden als in Europa, doch von den europäischen Juden ging ein neues Selbstbewusstsein aus, so dass Europa nach Graetz zum »Hauptsitz des Judentums« wurde,[12] und dies, obgleich Philipp IV., der 1306 die Juden aus Frankreich vertrieben hatte, für Graetz zu denjenigen Fürsten gehörte, die »den hochmütigen, eigensinnigen, gewissenlosen Despotismus in Europa heimisch gemacht« hätten.[13] Es folgten, wie Graetz schrieb, für die jüdischen Gemeinden in fast ganz Europa »die allertraurigsten Tage«.[14] Im 16. Jahrhundert schien es, so fuhr er fort, »mit den Juden im christlichen Europa zu Ende zu gehen. Überall Haß, Verfolgung und Ausweisung.«[15] Allein von Holland sei »der erste Strahl einer besseren Zeit« ausgegangen, und in Europa waren die Augen aller jüdischen Gemeinden auf Amsterdam gerichtet.[16] Eine grundlegende Wende in der Geschichte der Juden in Europa setzte mit der Französischen Revolution ein: »Auch für die Niedrigsten und Geächtetsten in dem europäischen Gesellschaftsleben, für die Juden, sollte endlich der Tag der Erlösung und Befreiung nach so langer, langer Knechtschaft unter den europäischen Völkern aufgehen.«[17] In seiner Begeisterung für die Ideen von 1789 treten bei Graetz zugleich Momente sowohl eines zivilisatorischen als auch eines emphatischen Begriffs von Europa hervor, auf den er erneut in der Schilderung vom Ausbruch der Revolution im Februar 1830 und vom März 1848 zurückkommt:
»Vor den Augen des bis zur Stumpfheit ernüchterten Europa geschah ein geschichtliches Wunder, das es von einem Ende zum andern aufrüttelte«, schrieb Graetz über die Februarrevolution von 1830.[18] Und die Revolution von 1848 begrüßte er emphatisch mit den Worten: »Unerwartet und überwältigend schlug für die europäischen Juden die Stunde der Befreiung. [...] Ein Freiheitsrausch kam über die europäischen Völker, der hinreißender und wunderbarer war als in den Jahren 1789 und 1830«.[19]
Wie für Graetz begann verständlicherweise auch für den französisch-jüdischen Historiker Theodore Reinach 1789 eine neue Ära in der Geschichte des Judentums.[20] »La Révolution francaise ouvre une ère nouvelle dans l'histoire du judaisme, comme dans celle de l'Europe occidentale«.[21] Im Mittelpunkt seiner 1884 erschienenen Histoire des Israélites stand die Verfolgung der Juden in den verschiedenen Teilen Europas, wobei Reinach sich nicht nur auf die großen Staaten Frankreich, Deutschland und Großbritannien konzentrierte, sondern auch die kleinen Länder und Randregionen einbezog. Reinach beschloss seinen Überblick über die Lage der Juden im christlichen Europa mit den kleinen Staaten Serbien, Bulgarien und Rumänien, sowie mit Ausführungen über den europäischen Teil der Türkei, um von dort zur Lage der Juden in Nordafrika, Persien, Indien, China und Amerika überzugehen.[22] Hinsichtlich der Französischen Revolution nahm Europa auch bei Reinach eine über den gemeinsamen Geschichts- und Erfahrungsraum hinausgehende Bedeutung an, wenn er etwa schrieb, dass 1789 die französischen Ideen in ganz Europa Resonanz fanden.[23]
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Die Zustimmung zu den Idealen und Intentionen der Französischen Revolution teilten Graetz und Reinach mit David Castelli, dem Autor der ersten italienischen Darstellung der jüdischen Geschichte.[24] Mit der Französischen Revolution hat auch für Castelli eine neue Phase in der Geschichte der Juden begonnen. Ihnen seien gleiche Rechte zuerkannt worden und sie hätten die Möglichkeit erhalten, so schrieb er in der Widmung seiner 1899 erschienenen Schrift Gli Ebrei. Sunto di Storia politica e Letteraria, am öffentlichen Leben teilzunehmen.[25] Castelli konzentrierte sich jedoch in seiner Darstellung auf die antike jüdische Vergangenheit, lediglich in einem abschließenden Kapitel gab er einen kurzen Abriss über die jüdische Geschichte seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Die Geschichte der Juden in Europa während des Mittelalters wechselte, und hier zeigt sich eine Übereinstimmung mit Graetz’ Sicht von der jüdischen Geschichte als einer Leidens- und Gelehrtengeschichte, zwischen Perioden der Prosperität und von wissenschaftlichem und literarischem Ruhm mit Phasen der Verfolgung und des Elends.[26] Castelli gab in diesem Abschnitt einen kurzen Abriss der Lage der Juden in den verschiedenen Ländern Europas und betonte, dass die europäischen Juden vor allem während der Kreuzzüge blutigen Verfolgungen und grausamen Massakern ausgesetzt gewesen seien.[27] Als sich im 16. Jahrhundert in Europa die neuen Territorialstaaten durchzusetzen begannen, sei den Juden überall mit Verachtung und Empörung begegnet worden, oder sie seien, wenn sie nicht vertrieben worden waren, gezwungen worden, in abgeschotteten Ghetti zu wohnen.[28] Mit der Französischen Revolution hätten sich die Prinzipien der bürgerlichen Gleichberechtigung auch in den anderen Staaten durchgesetzt und seien nunmehr zu einer Errungenschaft der Zivilisation geworden. Hier zeigen sich wie bei Graetz auch bei Castelli Momente eines zivilisatorischen Begriffs von Europa. Die Juden würden nicht mehr gehasst und verachtet, sie hätten vielmehr von sich aus zur Verbreitung der Kultur beigetragen.[29]
Wie Graetz, Reinach und Castelli idealisierte auch Martin Philippson, derjenige Historiker, der Graetz’ Werk zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die jüngste Gegenwart fortsetzte, die Französische Revolution als einen Neuanfang in der jüdischen Geschichte.[30] In der Zeit des sozial aufgestiegenen und patriotisch engagierten Judentums geschrieben, stellte Philippson die jüdische Geschichte im Unterschied zu Graetz nicht mehr als eine Leidens- und Gelehrtengeschichte, sondern als eine Erfolgsgeschichte dar, die jedoch durch die Entstehung des Antisemitismus wieder bedroht wurde. Emphatisch begann Philippson seine Neueste Geschichte des Jüdischen Volkes mit dem Satz: »Die Befreiung ist den Juden Europas aus dem grossmütigen Lande gekommen, das zum ersten mal in unserem Weltteile [...] den Grundsatz der Freiheit [...] aufgestellt hat: aus Frankreich«.[31] In seiner Darstellung breitete Philippson ein europäisches Panorama der Entwicklung der jüdischen Geschichte in allen Ländern Europas aus, und doch kamen bei Philippson immer wieder auch Momente eines deutsch-jüdischen Patriotismus zum Tragen, der sich über die europäischen Dimensionen seiner historischen Interessen legten. Diese zeigten sich insbesondere in dem Kapitel über die Wirkungen der deutschen Reformbewegung auf andere Ländern, in dem er die These vertritt, dass nur die deutsche Judenheit »Trägerin der jüdischen Wissenschaft, des Strebens nach Neugestaltung des Judentums, überhaupt des Interesses am jüdischen Wesen« gewesen sei.[32] Diese auf Deutschland fokussierten Passagen Philippsons erklären sich vor allem aus seiner politisch-patriotischen Haltung, auf Grund derer er sich auch als Freiwilliger zum Krieg gegen Frankreich gemeldet hatte. Und doch hatte Philippson gleichsam wider Willen eine europäische intellektuelle Biographie insofern, als er zuvor, ehe er sich der jüdischen Geschichte zuwandte, intensiv zur allgemeinen europäischen Geschichte gearbeitet hatte, als Rektor der Universität Brüssel fungierte, Mitglied zahlreicher europäischer Akademien war und in dieser Funktion auch die Gründung einer europäischen historischen Zeitschrift angeregt hatte.[33] trotz seiner deutsch-patriotischen Haltung ging Philippson in seiner Strukturierung der neuesten jüdischen Geschichte von den europäischen Dimensionen jüdischen Lebens aus, Europa stellte auch für ihn einen Geschichts- und Erfahrungsraum dar.
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Dies gilt ebenso für den niederländisch-jüdischen Pädagogen Levie David Staal, wie es sich etwa in seinem 1906 publizierten Schulbuch »Israel onder de Volkeren« zeigt.[34] Staal gab darin für die frühe Neuzeit sowohl eine Skizze der Geschichte des niederländischen wie des europäischen Judentums, in der er sich jedoch auf Österreich, Deutschland und Frankreich konzentrierte. In seinem Kapitel über die Entwicklung der mit der Französischen Revolution beginnenden Phase der staatsbürgerlichen Gleichstellung bezog Staal dann auch die kleineren Staaten in seine Darstellung ein und ließ diesem Kapitel Ausführungen über die Juden im 19. Jahrhundert außerhalb Europas folgen, in denen er jeweils eine kurze Skizze über Asien, Afrika, Amerika und Australien bot.[35]
Einen ähnlichen geschichtsräumlichen Begriff von Europa hatte schließlich auch der Mitherausgeber der Encyclopaedia Judaica Mark Wischnitzer, der gleichfalls an der historischen Sektion des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin tätig war.[36] In der Einleitung zu seinem 1935 erschienenen Kompendium ›Die Juden in der Welt. Gegenwart und Geschichte des Judentums in allen Ländern‹ wies Wischnitzer darauf hin, dass 80 bis 90% der Juden noch im 12. Jahrhundert im Orient und in Nordafrika lebten.[37] Ende des 15. Jahrhunderts war annähernd die Hälfte der jüdischen Bevölkerung bereits in Europa ansässig, und dem folgte ein, so Wischnitzer, »Europäisierungsprozeß von ungeahntem Ausmaße«.[38] Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts aber stehe Europa im Zeichen der Massenauswanderung nach Amerika, die Wischnitzer auch als »Europaflucht« bezeichnete.[39] In seinem lexikalischen Hauptteil skizzierte Wischnitzer dann die Entwicklung des Judentums in den einzelnen Ländern der Erde, Europa tauchte darin als Lemma nicht mehr auf.
II.
Ein davon abweichender, nicht nur geschichtsräumlicher, sondern zivilisatorischer Begriff von Europa ist in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts in jenem Kreis jüdischer Intellektueller entwickelt worden, deren Ziel es war, das Judentum als Wissenschaft zu konstituieren und die damit eine innere Reform sowie eine neue Tradition im Judentum begründeten.[40] So hatte das Mitglied des 1819 in Berlin gegründeten Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden, Eduard Gans, im Organ des Vereins, der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums, Beiträge zur Geschichte der Juden publiziert, in denen er ein europäisches Tableau der jüdischen Vergangenheit präsentierte. Gans, Halbjähriger Bericht, April 1822, zit. nach: Reissner, Eduard Gans, S. 71f. [41] In einem Vortrag innerhalb des Vereins präzisierte Gans im Hegelschen Sinne seinen Begriff von Europa als »das notwendige Ergebnis der vieltausendjährigen Anstrengungen des vernünftigen Geistes«. Was Europa nach Gans auszeichnete war seine »Vielheit, deren Einheit allein im Ganzen ist«. Die »Eigentümlichkeiten des heutigen Europa«, so fuhr er fort, beruhten »hauptsächlich auf dem Reichtum seines vielgliedrigen Organismus«. Im Mittelpunkt seines Begriffs von Europa standen Freiheit und Selbstverwaltung:
»Das ist des europäischen Menschen Glück und Bedeutung, daß er in den mannigfachen Ständen der bürgerlichen Gesellschaft frei den seinigen sich erwählen darf, daß er in den erwählten alle übrigen Stände der Gesellschaft fühlt.«[42]
Hinsichtlich der Frage der Auswanderung nach Amerika, wie sie einige Mitglieder des Vereins propagierten, wurden auch Vorbehalte vorgebracht, da der Verein, wie es hieß, »in Europa wirken und Europäische Kultur und Europäisches Leben unter den Juden verbreiten wolle«.[43]
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Zu einem der profiliertesten ›Europäer‹ aus dem Verein wurde das Gründungsmitglied Leopold Zunz.[44] In der Vorrede zu seiner Schrift über die jüdischen Gottesdienste schrieb er, dass es Zeit sei, den Juden in Europa Recht und Freiheit zu gewähren,[45] und den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Zivilisation in Europa und der Lage der Juden machte er in einer Rezension der judenfeindlichen Schrift des aus der Toskana stammenden und an die Universität Warschau berufenen Theologen Luigi Chiarini deutlich: »Zu den noch nicht gereiften Früchten wachsender Civilisation und Staatskunst darf man in den meisten Ländern Europa’s unbedenklich die Angelegenheiten der Juden zählen«.[46] Der breite europäische Horizont seines historisch-politischen Denkens zeigte sich etwa in dem Stichwort Juden für die 9. Auflage des Brockhaus Konversationslexikons von 1845,[47] und die europäischen Perspektiven in Zunz öffentlicher Tätigkeit werden insbesondere in seinem politischen Engagement seit der Revolution von 1848/49 deutlich. So eröffnete er eine Rede in einem Berliner Wahlbezirk mit den Worten: »Grosse Bewegungen durchziehen jetzt Europa«.[48] Einen Vortrag vor einem Berliner Bezirksverein im Jahr 1864 zum Thema »Selbstregierung« schloss er mit den Worten: »Nun wohl, auch wir, Deutschland und Europa haben an dem Ausbau der Selbstregierung, an der Freiheit der Einzelnen wie an der Freiheit der Gemeinden zu arbeiten«.[49] Wie für Graetz und jene jüdischen Historiker, für die Europa vorwiegend ein Geschichtsraum darstellte, war auch für Zunz die Französische Revolution ein Wendepunkt nicht nur der jüdischen, sondern auch der allgemeinen europäischen Geschichte. Frankreich, so führte Zunz in einem weiteren Vortrag vor dem Berliner Bezirksverein zum Thema »Revolution« aus, habe den Kampf »für Gleichheit und Meinungs-Freiheit« »mit dem ganzen übrigen Europa aufgenommen«. Emphatisch schloss er mit dem Bekenntnis, dass die »Bewegung von 1789« noch nicht beendet sei, vielmehr sei »noch eine Weltrevolution in Europa nöthig«, um die »Ideen der Freiheit und des gleichen Rechts durchzusetzen«. Erst wenn »mit der Selbstregierung der Rechtsstaat in dem gesammten Europa aufgerichtet sein wird, dann ist ›die Revolution‹ geschlossen«.[50] Auch in seinen religionsgeschichtlichen Arbeiten griff Zunz diese politischen Ideen auf; eine Studie über die hebräischen Handschriften in Italien eröffnete er beispielsweise mit dem Satz: »Zu den Schattenseiten europäischer Kultur gehört die Behandlung der Juden und des Judenthums«.[51]
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Einen zivilisatorischen Begriff von Europa hatte auch Heinrich Heine, der in seiner kurzen Berliner Zeit ebenfalls am Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden beteiligt war, glaubte er doch, mit der Taufe das »Entréebillet zur europäischen [Hervorhebung U. W.] Kultur« erhalten zu können.[52]
Wie Gans und Zunz hatte auch der Historiker Isaak Markus Jost, gleichfalls Mitbegründer des Vereins für die Wissenschaft und Cultur der Juden, einen zivilisatorischen Begriff von Europa.[53] Von dem traditionskritischen und den Intentionen der Aufklärung verpflichteten jüdischen intellektuellen Milieu geprägt, aus dem auch die Idee hervorgegangen war, das Judentum als Wissenschaft zu konzipieren, wollte Jost mit seiner historischen Arbeit, wie er im Vorwort des ersten, 1820 erschienenen Bandes seiner neunbändigen Geschichte der Israeliten schrieb, die »Gespenster der Vorzeit« vertreiben und zur Belehrung und Besserung der Juden beitragen.[54] Sein Bild von Europa wird vor allem in seiner zeitgeschichtlichen Darstellung der neueren Entwicklung der jüdischen Geschichte, 1846 und 1847 erschienen, deutlich. Den Erfolg seines Jahrhunderts sah Jost vor allem darin, dass es alle »Schranken der persönlichen Freiheit« aufgehoben habe, ein Erfolg, den er nicht zuletzt auf die europäische Bildung zurückführte.[55] In seiner religionsgeschichtlichen Darstellung der jüdischen Geschichte sah er gar im preußischen König Friedrich II. eine Erscheinung, in der »ganz Europa« die »Strahlen eines neuen Tages« erblickt habe,[56] und in seiner Allgemeinen Geschichte des Israelitischen Volkes von 1832 lobte er, dass sich in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zahlreiche jüdische Gemeinden »der europäischen Zivilisation mit starken Schritten nähern«.[57] Insbesondere hob Jost das Engagement des Hamburger Anwalts Gabriel Riesser für die Emanzipation der Juden hervor, der sich dadurch, wie Jost betonte, »einen europäischen Ruf erworben« habe.[58] In keinem europäischen Land aber hätten die Juden früher »gleiche Freiheit« genossen wie in Holland.[59] Während sie in anderen europäischen Staaten »der Misshandlung der Völker und der Willkür der Großen« ausgesetzt seien, war ihr Schicksal im Herzogtum Savoyen erträglich.[60] Besonders problematisch war das Schicksal der Juden in Russland und Polen, »deren ganzen Jammer Europa«, wie Jost betont, gar nicht erfahren habe.[61] Die Ursache dafür sah Jost vor allem darin, dass die Bildung »hinter dem übrigen Europa bei weitem zurückgeblieben« sei.[62]
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Wie sehr das Europabild in Josts zeitgeschichtlicher Darstellung vom Begriff der Bildung und der europäischen Zivilisation geprägt ist, zeigt sich besonders, wenn er die Beziehungen der Juden Europas zu denjenigen in anderen Kontinenten schildert. Im Verhältnis zu Amerika changiert Josts Begriff von Europa dabei zwischen einem transatlantisch-westlichen, in dem Amerika miteingeschlossen ist, und einem allein auf das ›alte‹ Europa konzentrierten Begriff. In seiner Neueren Geschichte etwa heißt es, dass die Vereinigten Staaten von Amerika, in denen die Freiheit »der allgemein herrschende Grundsatz ist«, »als europäische Staaten zu betrachten sind«.[63] In seiner zuvor erschienenen zweibändigen Gesamtdarstellung hingegen hatte er Europa und Amerika noch voneinander unterschieden, und hervorgehoben, dass in dem Augenblick, als die neuen Ideen von Gleichheit und Freiheit in Europa durchbrachen, die Revolution in Amerika schon »alles, was in Europa erst das Werk vieler Mühe sein sollte« vollendet habe.[64] Die Türkei wiederum stand für Jost im Übergang zu den Ländern der asiatischen Despotie, auch wenn sich in der »europäischen Türkei« große jüdische Gemeinden wie diejenigen von Konstantinopel und Thessaloniki befänden.[65] So versäumte es Jost nicht darauf hinzuweisen, dass die Türkei »eben jetzt dem europäischen Geist sich immer mehr annähert«.[66] Hoffnungen auf eine zivilisatorische Entwicklung und eine Verbesserung der Lage der Juden hatte Jost »durch das Eindringen europäischer Cultur in Algier« auch für Nordafrika, auch wenn die dortigen Juden »kaum erst aus dem Dunkel« hervorgetreten seien. »Der Zustand der Israeliten ist darin, wie überall im Reiche des Islam, eine schmähliche Unterdrückung, Zurücksetzung, Absperrung«.[67] Die chinesischen Juden hingegen stünden »in keiner oder sehr lockerer Berührung mit der europäischen Cultur«, doch die Zeit wird auch sie, so Josts fortschrittsoptimistische und eurozentrische Sicht, »in den Kreis der geistigen Entwicklung hineinziehen, je weiter die europäische Gesittung nach dem Osten vordringt und die asiatische Trägheit überwindet«, wobei Jost hoffte, »dass nicht bloß Waffengewalt den Europäern eine solche Übermacht« verschaffen möge.[68]
»Die Lehre«, so fasste Jost die Ergebnisse seiner zeitgeschichtlichen Darstellung zusammen, »welche das gebildete Europa längst empfing, doch noch immer nicht beherzigt«, liege darin, dass jede Gesetzgebung, die Juden und Nichtjuden voneinander trenne, nicht auf der Höhe der Zeit sei und den »Keim des Verderbens« in sich trage.[69]
Welche Bedeutung die europäische Kultur für Jost hatte, zeigt sich auch in einem Brief, in dem Jost nicht nur Goethe und Lessing, sondern auch den englischen Dramatiker Shakespeare, den französischen Schriftsteller Alphonse Lamartine, den spanischen Dichter Petro Calderon und den Autor des portugiesischen Nationalepos Luis de Camoes als seine Lehrer bezeichnete.[70]
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Seine Aufgabe sah Jost darin, mit der Darstellung der jüdischen Vergangenheit die Juden der Gegenwart auf ihre aktuellen politischen Aufgaben und die Bestimmung ihrer Zeit vorzubereiten, und diese wiederum sah er in der bürgerlichen Gleichstellung und kulturellen Bildung der Juden. Hatte Jost mit seiner Arbeit an der jüdischen Geschichte in der frühen Phase der Emanzipation begonnen, so legte der italienische Rabbiner und Herausgeber der italienisch-jüdischen Zeitschrift Il Vessillo Israelitico, Flaminio Servi, kurz vor Abschluss der Emanzipationsgeschichte im Jahr 1871 ein Werk mit dem Titel Gli Israeliti d’Europa nella Civiltà vor, in dem er wie Jost einen zivilisatorischen Begriff von Europa entwickelte.[71] Im ersten Teil seines Buches gab Servi zunächst eine Darstellung der neueren Geschichte der Juden in Europa von 1789 bis 1870, in der er die jüdischen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit mit Hilfe von Anekdoten illustrierte. Im zweiten Teil schilderte er eine große Zahl von Lebenswegen europäischer Juden, und den Abschluss seiner Publikation bilden schließlich umfangreiche statistische Angaben über die jüdische Bevölkerung in den verschiedenen Teilen Europas. Mit Jost verbindet Servi nicht nur die optimistische Perspektive auf die Zukunft, der Glaube an den Fortschritt und die Überzeugung von der Notwendigkeit einer bürgerlichen Bildung für die Juden, sondern auch der Blick auf und die Vorstellung von Europa. Schon im Vorwort seines Buches bekundete er seine Ansicht, dass mit der Zivilisation, die sich im 19. Jahrhundert in Europa durchgesetzt hat, »engherzige, fanatische und intolerante Ideen nicht mehr auf der Tagesordnung« stünden.[72] Daher müsse heute jedes Buch für die Brüderlichkeit und die Gleichheit aller Bürger eintreten. Sein Ziel sah Servi darin, seinen Mitbürgern das Engagement und die Aktivität der Juden im gegenwärtigen Jahrhundert vorzustellen und deutlich zu machen, welchen Beitrag sie »für die moralische und politische Widergeburt« der Nationen in Europa geleistet hätten. Es müsse, wie Servi in seiner Einleitung schrieb, ein Ruck durch die jüdische Jugend gehen und er rief sie auf: »Seht her, ihr Bürger, folgt den Gesetzen eurer Vaterländer und seid bereit, dafür zu kämpfen«.[73]
Seine historischen Kapitel wiederum begann Servi mit dem Bekenntnis, dass die Geschichte der Juden Europas von der, wie er schrieb, »glorreichen Französischen Revolution bis zu dem Moment, in dem wir dies schreiben, die Geschichte heroischer Taten und heroischen Fleißes« sei, die in Erinnerung behalten werden müsse. »Schweigen und Vergessenheit«, so Servi, »wären eine unverzeihliche Schuld«. Die heranwachsenden Generationen müssten wissen, »wie die Juden trotz aller Vorurteile und trotz der Ignoranz der verbissenen Feinde allen Fortschritts und trotz des freiheitsfeindlichen und religiösen Fanatismus«, für ihre Freiheit und Gleichberechtigung gekämpft hätten. »Von 1789 bis heute«, so heißt es weiter, hätten die Juden immer wieder ihre Vaterlandsliebe, ihre Brüderlichkeit und ihre Wohltätigkeit unter Beweis gestellt.[74]
In einer Tour d’Horizon über den Stand der bürgerlichen Gleichstellung in den verschiedenen Ländern Europas meinte Servi sogar, wenn auch in vorsichtigen Worten, in der jüngsten Entwicklung in Russland positive Zeichen erkennen zu können.[75] Sorgen bereitete ihm indes die Schweiz, wo Juden, wie Servi verwundert schrieb, in einigen Kantonen kein Wohnrecht hätten. Wie könne man den Widerspruch erklären, so fragte er, dass eine Republik den Juden die Bürgerrechte verweigere? Er war sich indes sicher, dass auch in der Schweiz die Einschränkungen verschwinden würden, denn die freie Schweiz werde es, so Servis Überzeugung, sicher nicht gerne sehen, »sich vom Zar und vom Sultan darüber belehren zu lassen, was Freiheit ist«.[76] Bedenken äußerte Servi schließlich über die Lage der Juden in Rumänien und den Donaufürstentümern, doch, so beschloss er seinen historischen Überblick, »wir verzweifeln nicht: Von 1789 bis heute, genießt fast die Hälfte der fünf Millionen Juden, die in etwa Europa bevölkern, vollständige Gleichheit, und von der anderen Hälfte sind zwei Drittel dabei, diese zu erreichen«.[77]
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Überraschenderweise ist auch Simon Dubnow, Autor einer zehnbändigen Weltgeschichte des jüdischen Volkes, die vorwiegend aus der Perspektive Osteuropas konzipiert wurde, in seiner intellektuellen Sozialisation von einem ähnlichen zivilisatorischen Begriff von Europa ausgegangen.[78] In seiner Autobiographie schildert Dubnow, wie er in seiner Jugend eine existentielle und religiöse Krise durchgemacht hatte, aus der er sich rettete, indem er »westeuropäische Ideen« aufnahm.[79] Entsetzt zeigte er sich auch in seiner Petersburger Zeit, in der er als Literaturkritiker und Redakteur einer jüdischen Zeitschrift tätig war, darüber, wie ein Schriftsteller, in dem er kurz zuvor noch ein Vorbild gesehen hatte, dem, wie Dubnow sich in seinen Memoiren ausdrückte, »europäischen Fortschritt den Kampf angesagt und sich dem Orient« zugewandt hatte.[80] Seine vordringliche Aufgabe sah Dubnow in dieser Zeit darin, die russisch-jüdischen Schriftsteller an »europäische Schreibmaßstäbe« heranzuführen, und so unterstützte er in einem Überblick über die moderne europäische Literatur etwa einen russischen Autor, der, so Dubnow, seinerseits eine »Europäisierung der literarischen Methoden« anstrebte.[81] Nachdem Leon Pinsker unter dem Eindruck der russischen Pogrome 1882 in seiner Schrift Autoemancipation dafür eingetreten war, dass die Juden zu ihrer nationalen Identität zurückkehren und einen jüdischen Staat bilden sollten, empörte sich Dubnow, dass Pinsker »alle unsere Hoffnungen auf eine bürgerliche Emanzipation und kulturelle Erneuerung im europäischen Geist zunichte« gemacht hätte. In jener Zeit war Dubnow noch, wie er sich ausdrückte, von »den Idealen des Europäertums« erfüllt.[82]
Dass für Dubnow zu diesen Idealen ganz besonders auch die Ideen von 1789 gehörten, zeigte sich in seinen Tagebuchaufzeichnungen des Jahres 1889, aus denen er in seinen Memoiren zitierte und in denen es heißt: »Es nähert sich der Jahrestag des größten historischen Ereignisses«, und »halb Europa«, so empörte er sich, »aber begegnet ihm voller Verachtung«.[83]
1890 ging Dubnow nach Odessa, weil diese Stadt für ihn ein »europäisch geprägtes jüdisches Zentrum« darstellte.[84] Angesichtes der erneut drohenden Pogrome plädierte er dafür, an die europäische Öffentlichkeit zu appellieren; er habe in jener Zeit noch, wie er in seinen Memoiren anfügt, an das »Gewissen Europas« geglaubt.[85] Scharf kritisierte er jede »Lossagung von Europa«, und seinen zionistischen Zeitgenossen hielt er entgegen, »die jüdische Diaspora habe ein historisches Anrecht auf ein Leben in Europa«.[86] In dieser Zeit entwarf Dubnow, er hatte gerade begonnen seine Geschichte der Juden zu konzipieren, eine neue Periodisierung der jüdischen Vergangenheit in eine orientalische Phase und eine westliche oder europäische Phase, eine Unterteilung, an der er auch in seiner 10bändigen Weltgeschichte des jüdischen Volkes festhielt.
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Die europäische Kultur schwebte Dubnow als Modell und Leitbild vor, und mit Entsetzen nahm er den Beginn des Ersten Weltkrieges wahr. Schon Ende Juli 1914 sah er, wie er in seinem Tagebuch schrieb, einen »europäischen Krieg« kommen, und am 2. August notierte er, dass ihm »vor dem Grauen des bevorstehenden Völkergemetzels, vor der Selbstausrottung Europas« trübe werde.[87] Er fühle sich, so schrieb er 1916 in seinem Tagebuch, »mitten im Zusammenbruch der europäischen Kultur«, und am Anfang des folgenden Jahres warnte er: »Das Jahr 1917 muß die Entscheidung im Weltenkataklysmus bringen. Sonst wird 1918 die Sonne über dem Leichnam Europas aufgehen«.[88]
Mit Entsetzen beobachtete er die Entwicklung der Revolution in Russland, die ihn vor allem auch deshalb erschütterte, weil er in den Bolschewiki die »Asiaten des Sozialismus« sah, und eine Lösung sah er nur dann, wenn, wie er sich ausdrückte, »das zivilisierte Europa in einem Kreuzzug gegen das bolschewistische Asien« ziehen werde.[89] Im November 1918 hoffte er, dass das »demokratische Westeuropa [...] Russland aus der Umklammerung der Anarchie« befreien werde,[90] und mit Begeisterung nahm er im April 1919 die Gerüchte auf, Petersburg solle zu einer freien Stadt unter dem Protektorat Skandinaviens erklärt werden. »Man kann es kaum glauben«, notierte Dubnow in seinen Tagebüchern, es »wäre zu schön, um wahr zu sein; wir wären mit einem Mal losgelöst vom bolschewistischen Asien und würden mit Europa [...] vereinigt«.[91] Zwei Jahre später, er hatte sich inzwischen entschieden, aus Russland auszuwandern, nahm er ein »schreckliches Anwachsen des Antisemitismus in Europa« wahr, und fügte die Bemerkung an: »Und dennoch will ich in dieses Europa emigrieren«.[92] Seinen Erinnerungen an die ersten Jahre, die er im Exil in Berlin verbrachte, gab er die Überschrift »Auf den Ruinen Europas«, und entsetzt musste er beobachten, wie die »Hoffnung auf einen europäischen Frieden« verlöschte.[93] 1924 aber schien ihm erneut das »fremde, lange vergessene Wort ›Friede‹« wieder »über dem Graben der verfeindeten Völker, die Europa heißen«, zu erklingen.[94] Im folgenden Jahr fragte er sich, ob der Locarnopakt »einen Beginn des Pazifismus in Europa einläuten« werde und notierte dazu in seinem Tagebuch: »Jetzt greift die Seele des alten Pazifisten erneut nach dem Strohhalm, um nicht in Hoffnungslosigkeit zu versinken«.[95]
Wie aufmerksam Dubnow die zeitgenössische Diskussion über die europäische Einigung verfolgte, an die auch seine eingangs zitierte Frage über die Vereinigten Staaten von Europa anknüpfte, zeigt sich nicht zuletzt an seinen Tagebuchnotizen zur Entwicklung der Pan-Europa-Bewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi.[96] In diesen Bemerkungen Dubnows überlagerte sich der zivilisatorische mit dem dritten, hier vorzustellenden Begriff von Europa, dem emphatischen.
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III.
Dieser emphatische Begriff von Europa - jener Begriff, der sowohl auf die europäische Einigung als auch auf die Einheitlichkeit der Geschichte Europas zielte - ist im Kontext der jüdischen Geschichtsschreibung auch mit der besonderen Rolle, die die Juden in Europa und für Europa gespielt haben, verbunden.[97]
Auch wenn der ›Europagedanke‹ im engeren Sinne, also die Idee von der politischen Vereinigung, in der jüdischen Geschichtsschreibung eher marginal vertreten ist, so war er, wie die Tagebuchnotiz von Simon Dubnow aus dem Jahr 1925 zeigt, keineswegs unbekannt. 1919 etwa hatte der italienisch-jüdische, sozialistisch-republikanische politische Schriftsteller Felice Momigliano, der an der Universität Rom Philosophie lehrte und sich vielfach mit der Geschichte der Juden und Fragen der jüdischen Kultur und Tradition auseinandergesetzt hatte, eine kleine Schrift über den föderalistischen Politiker des italienischen Risorgimento Carlo Cattaneo und die Idee der vereinigten Staaten von Europa geschrieben, in der er an Cattaneos Plädoyer für die rechtliche Gleichstellung der Juden, vor allem aber an dessen föderalistische Idee eines vereinigten Europa erinnerte.[98] »Frieden werden wir nur dann haben«, wie Momigliano aus einer Schrift Cattaneos von 1849 zitiert, »wenn wir die Vereinigten Staaten von Europa haben«.[99]
Nicht zufällig hatte in dem historischen Kontext, in dem Carlo Cattaneos Plädoyer für die Vereinigung Europas stand, auch der polnische politische Schriftsteller Jan Czynski, Sohn jüdischer Eltern, die zum Christentum übergetreten waren, die polnisch-jüdische Frage als eine europäische Frage bezeichnet,[100] und ein weiterer polnischer Autor, Józefa Czecha, hatte seinerseits eine kurze Darstellung der Geschichte der Juden in Europa vorgelegt.[101]
Insbesondere im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung und der Entstehung des Pazifismus kamen auch jüdische Autoren auf die Idee der Einheit Europas zurück. So hatte der jüdisch-freidenkerische Pazifist und Journalist Eduard Loewenthal 1869 in Dresden den Europäischen Unionsverein ins Leben gerufen, der das Ziel hatte, einen europäischen Staatenbund zu gründen,[102] und auch der Herausgeber der Sozialistischen Monatshefte Joseph Bloch setzte sich für die Vereinigung Europas ein, auch wenn dessen Konzeption von Europa eher auf eine kontinentaleuropäische Vereinigung und gegen Großbritannien und dessen Empire gerichtet war.[103]
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Insbesondere in dem historischen Augenblick, in dem das Leben der Juden in Europa vom nationalsozialistischen Deutschland bedroht war, hatte der Schriftsteller und Literaturkritiker der Vossischen Zeitung Arthur Eloesser eine populärwissenschaftliche und gemeinverständliche Darstellung über das Judentum im literarischen Leben des 19. Jahrhunderts unter dem programmatischen Titel Vom Ghetto nach Europa vorgelegt.[104] Welchen Wert der Autor auf diesen Titel legte, machte der erste Satz seines Vorwortes deutlich, in dem es heißt: »Der Titel eines Buches [...] soll seinen Inhalt nicht erschöpfen, sondern nur andeuten«; er hoffe, so fuhr Eloesser fort, mit diesem Titel »den richtigen Anschlag gegeben zu haben«. Ausgangspunkt seiner gleichwohl auf das deutsche Judentum konzentrierten Darstellung war das 18. Jahrhundert, denn »es ist die Ära der Aufklärung, ihr Verspechen von Toleranz und Humanität, die das Judentum zuerst in Bewegung und auf den Weg nach Europa gebracht hat«.[105] Moses Mendelssohn, so führte er im ersten Kapitel aus, habe »in der europäischen Republik des Geistes« weithin »Bewunderung und Verehrung« gefunden, doch seien auch ihm »Demütigungen oder Kränkungen« nicht erspart geblieben.[106] Ludwig Börne und Heinrich Heine hätten beide versucht, zu einem kulturellen Austausch und einer gegenseitigen Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich beizutragen, weil allein deren Einigkeit, wie Eloesser schreibt, für »ein freies und großmütiges Europa« bürgen würde.[107] Selbst Samson Raphael Hirsch, der Begründer der Neoorthodoxie habe sich »ohne Furcht vor moderner Bildung und Wissen aus dem Ghetto nach Europa« begeben.[108] Eloesser beschloss seine Darstellung mit einer Bemerkung über den Schriftsteller Berthold Auerbach, der von der antisemitischen Bewegung »tief verstört« war: »Die Fahrt ging immer noch vom Ghetto nach Europa und als er [Auerbach. U. W. ] die Küste schon erreicht zu haben glaubte, war sein Schiff gescheitert.«[109]
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Handelte es sich bei Momigliano, Loewenthal, Bloch und Eloesser um politisch engagierte Juden, die sich immer wieder auch zu Fragen der jüdischen Vergangenheit und Gegenwart geäußert haben, so war Alfred Stern ein jüdischer Historiker, dessen Hauptwerk sich nicht auf die jüdische Geschichte selbst bezog, sondern eine 10bändige Geschichte Europas im 19. Jahrhundert darstellte. Der 1846 geborene Stern hatte in Heidelberg, Göttingen und Berlin Rechtswissenschaften, Geschichte und Nationalökonomie studiert und über den deutschen Bauernkrieg promoviert.[110] Nach seinem Studium war er zunächst im badischen Landesarchiv in Karlsruhe tätig und habilitierte sich 1872 an der Universität Göttingen mit einer Arbeit über John Milton und die Geschichte Englands im 17. Jahrhundert.[111] 1873 wurde Stern an der Universität Bern zum ordentlichen Professor für Geschichte ernannt und publizierte in dieser Zeit unter anderem Abhandlungen über die preußische Reformationszeit oder eine Darstellung der Englischen Revolution. 1887 erhielt er einen Ruf an das eidgenössische Polytechnikum Zürich, wo er zunächst eine zweibändige Biographie Graf Honoré Gabriel du Riqueti von Mirabeau vorlegte. Gleichzeitig begann er mit der Arbeit an seiner von einem demokratischen Standpunkt aus geschriebenen Geschichte Europas im 19. Jahrhundert, für die er umfängliche Quellenstudien in den Archiven zahlreicher europäischer Städte durchführte.[112] Wie Stern in seinen autobiographischen Aufzeichnungen hervorhob, ging es ihm darum, »die Verflechtung der nationalen und der universalen Geschichte nachzuweisen«.[113]
In seinem programmatisch auf den 14. Juli datierten Vorwort zum ersten, 1894 erschienenen Band schrieb Stern, er habe seine Arbeit in der Überzeugung begonnen, »daß trotz der lebensvollen Mannichfaltigkeit der einzelnen Erscheinungsformen die europäische Menschheit auch im neunzehnten Jahrhundert eine Gemeinschaft bildet«,[114] und in der Einleitung sprach Stern zugleich von der »Ideen- und Interessengemeinschaft der europäischen Völker«.[115] Im Vorwort zu dem 1916 erschienenen siebten Band aber musste er resigniert feststellen: »Heute möchten diese Worte vielen Lesern als ein Hohn erscheinen«. Der Krieg, so fuhr er fort, habe »die Ideen- und Interessengemeinschaft der europäischen Völker zerrissen«, und es sei noch nicht abzusehen, »wann in den Völkern Europas [...] das Gefühl einer inneren Zusammengehörigkeit wieder aufdämmern wird«. Gleichwohl gab er seiner Hoffnung Ausdruck und fuhr fort, »es hieße an der Zukunft Europas verzweifeln, wollte man diesen Zustand als einen für immer dauernden ansehen. Die gemeinsamen Wurzeln der gesamteuropäischen Kultur sind zu stark, als daß sie durch das Wüten des Orkans, der jetzt über den Erdteil hinbraust, zerstört werden könnten«.[116] Dennoch schrieb er im Vorwort zu dem 1924 vorgelegten zehnten und letzten Band, dass auch der »angebliche Friede« die »Ideen und Interessengemeinschaft« »noch nicht wieder hergestellt« habe.[117]
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In die jüdische Geschichtsschreibung im engeren Sinne hat die Idee der Einheit Europas zwar weniger Eingang gefunden. Angesichts der Bedrohungen, denen die europäischen Juden durch den Antisemitismus ausgesetzt waren, verteidigten jüdische Historiker jedoch umso nachdrücklicher die zivilisatorischen Errungenschaften Europas und das Engagement der Juden für die europäische Kultur. Schon 1910 hatte der britisch-jüdische Historiker Lucien Wolf in seinem Stichwort »Antisemitismus« für die Encyclopaedia Britannica emphatisch geschrieben, die Juden seien Europäer aufgrund ihrer alten Ansiedlung in der westlichen Welt und aufgrund der Prägungen, die sie durch ihre europäische Geschichte erhalten hätten.[118] Insbesondere angesichts der Gefahren, die den Juden in Europa durch das nationalsozialistische Deutschland drohten, hatte der ebenfalls britisch-jüdische Historiker Cecil Roth nachdrücklich den Beitrag der Juden für die Entstehung und Entwicklung der europäischen Zivilisation betont. »Antisemiten«, so schrieb er im Dezember 1937 im Vorwort zu seinem Werk The Jewish Contribution to Civilsation, »würden behaupten, dass Juden eine fremdartige Wucherung im europäischen Leben darstellten.«[119] demgegenüber betonte Roth, dass es keinen Aspekt der Zivilisation gebe, den Juden nicht bereichert hätten, ein Gedanke, für den er eine Fülle von Belegen aus den unterschiedlichsten Wissenschaften, den verschiedensten kulturellen Bereichen sowie dem öffentlichen Leben bot. »Für zweitausend Jahre«, so schloss Roth seine Darstellung, »bildeten die Juden einen Teil von Europa«, und über die ganze Zeit hinweg, und besonders im letzten Jahrhundert, hätten sie einen wesentlichen Beitrag zu dem gemeinsamen Erbe geleistet. [120] Im Januar 1938 hielt Roth dann auf einer Versammlung der Jewish Historical Society of England einen Vortrag mit dem emphatischen Titel: »The Jew as a European«. Die neue Flut des Antisemitismus, so betonte Roth darin, die ihren Ursprung im nationalsozialistischen Deutschland habe, unterscheide sich stark von den bisher bekannten Formen von Fremdenfeindlichkeit und den überlieferten antijüdischen Vorurteilen. Sie vergifte das europäische Leben und greife die Juden als ein Kollektiv an. Die Antisemiten würfen den Juden vor, einem fremden asiatischen Stamm anzugehören. Daher, so Roths Plädoyer, reiche es nicht aus, heute Position als Engländer, Franzose oder Italiener zu ergreifen. »Wir müssen weitergehen, und unsere Position als Europäer, als Bürger der westlichen Welt zu behaupten«. Die Juden, so führte Roth aus, seien nicht nur einfache Europäer, »they are in many respects quintessentially Europeans«. Sie hätten in herausragender Weise einen Beitrag zur Entwicklung des intellektuellen Lebens in Europa geleistet, so dass Roth formuliert: »The Jews, then, are a European people«.[121]
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IV.
Einen emphatischen Begriff von Europa hat die jüdische Geschichtsschreibung vor allem in dem historischen Moment entwickelt, als die bürgerlichen Rechte der Juden in den europäischen Staaten angegriffen wurden und die Juden in Europa in ihrer Existenz bedroht waren. Eine Folge dieser Ausgrenzung war zugleich, dass am Ende der hier zu behandelnden Zeit ein vierter Begriff von Europa in der jüdischen Geschichtsschreibung aufkam, indem in der zionistischen Geschichtsschreibung Europa nur mehr als Raum des Exils, als Ort der Diaspora, erschien.[122]
Stand in dem emphatischen Begriff von Europa die besondere Bedeutung der Juden für die Entstehung und Entwicklung der europäischen Zivilisation im Zentrum, so hatte die jüdische Geschichtsschreibung im Zeitalter der Emanzipation zugleich einen zivilisatorischen Begriff von Europa entworfen, der paradoxerweise genau im entgegengesetzten Sinne darauf zielte, die jüdische Bevölkerung an die europäische Kultur heranzuführen. Daneben stand in der europäisch-jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein geschichtsräumlicher Begriff von Europa als wichtigstes Siedlungsgebiet neben Afrika, Asien und Amerika, ohne dass jedoch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede reflektiert worden wären. Diese drei hier vorgestellten Europabilder lassen sich jedoch nicht trennscharf voneinander abgrenzen, vielmehr überlappen sie sich und gehen gelegentlich auch ineinander über. Überschneidungen zwischen den drei Ebenen ergeben sich insbesondere dann, wenn von der Französischen Revolution und dem Projekt der Emanzipation die Rede ist. Im Pathos für die Ideen von 1789 mischten sich mitunter die emphatischen und zivilisatorischen Momente auch dann, wenn sie von Autoren kamen, die sonst eher einen Begriff von Europa als einem Geschichts- und Erfahrungsraum hatten wie etwa Heinrich Graetz oder Martin Philippson.
Der positive Bezug auf die Französische Revolution und das emanzipatorische Paradigma ist schließlich von Salo W. Baron, Autor einer 18 Bände umfassenden sozial- und religionsgeschichtlichen Darstellung der Geschichte der Juden, nachhaltig in Frage gestellt worden. Schon in einem 1928 veröffentlichen Aufsatz hatte er dafür plädiert, »sich von der tränenreichen Theorie der vorrevolutionären Leidensgeschichte zu verabschieden«.[123] In seiner Social and Religious History of the Jews hatte Baron zwar ein genaues Gespür für die Entwicklung der jüdischen Geschichte in allen Teilen Europas, mithin eine europäische Perspektive, auch sprach er im einleitenden Kapitel zum ersten Band davon, dass die emanzipierten Juden als Juden und Europäer am Scheitern der großen Hoffungen gelitten hätten,[124] Gleichwohl war Europa für Baron keine die historische Überlieferung strukturierende Kategorie. Er betonte weniger die europäischen als vielmehr die weltgeschichtlichen Dimensionen der jüdischen Geschichte.[125]
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Schließlich sind auch Konzeptionen der jüdischen Geschichte formuliert worden, die gänzlich ohne einen Begriff von Europa auskamen. So hatte schon 1919 Ismar Elbogen eine universalgeschichtliche Darstellung der Geschichte der Juden vorgelegt, in der Europa als historischer Raum und als Ort jüdischer Geschichte nicht genannt wurde. Die Geschichte der Juden im Mittelalter unterteilte Elbogen in diejenige in den islamischen und den christlichen Ländern, und für die neuzeitliche jüdische Geschichte griff er auf die Unterscheidung zwischen den von ihm so genannten »portugiesischen« und »deutschen«, also auf die sephardischen und aschkenasischen Juden als strukturierende Begriffe zurück.[126]
Elbogen stellt indes eher eine Ausnahme dar. Bezeichnend für die Entwicklung der jüdischen Geschichtsschreibung in Europa ist nicht nur, dass in ihr sich drei unterschiedliche Begriffe von Europa überlagerten, sondern darüber hinaus, dass zahlreiche jüdische Historiker in ihren wissenschaftlichen Werdegängen gleichsam transnationale europäische Lebenswege zurückgelegt hatten, in ihrer Arbeit als Historiker in europäische wissenschaftliche Netzwerke integriert waren und zahlreiche Werke in unterschiedliche Sprachen übersetzt wurden.[127]
Was die verschiedenen Konzeptionen der Geschichte der Juden schließlich verbindet, ist die Tatsache, dass die jüdische Geschichte vom 10. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sich in erster Linie in Europa abgespielt hat, dass diese Epoche gleichsam als das »europäische Zeitalter der jüdischen Geschichte«, wie dies zuerst Cecil Roth formuliert hat, bezeichnet werden kann.[128]
Für die Fragen an die europäische Geschichte und die Überlegungen zu einer neuen Konzeptualisierung der Geschichte Europas heißt dies nicht nur, dass eine europäische Geschichte ohne die Geschichte der Juden nicht zu denken ist.[129] Die Geschichte der Juden in Europa kann vielmehr dazu beitragen, eine Geschichte Europas zu schreiben, die nicht nur eine Addition mehrere National- oder Regionalgeschichten darstellt, sondern eine konzeptionell als Synthese angelegte und aus einem dezidiert europäischen Blickwinkel geschriebene Geschichte. So hatte schon Heinrich Graetz den »Grenzpfahl-Patriotismus« zeitgenössischer Juden kritisiert, der darauf hinausliefe, »daß der deutsche Jude vor allem ganz Deutscher, der französische ganz Franzose sei, und so durch ganz Europa«.[130]
92
Für kritische Lektüre und hilfreiche Anregungen danke ich Christhard Hoffmann sehr herzlich.
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ANMERKUNGEN
[*] Ulrich Wyrwa, Dr. habil., Privatdozent am Historischen Institut der Universität Potsdam und Projektleiter am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.
[1] Jost, Neuere Geschichte Bd. 3, S. VII; zu Jost s. Brenner, Propheten der Vergangenheit, S. 54–59; Wyrwa, Die europäischen Seiten der jüdischen Geschichtsschreibung, S. 17–21.
[2] Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 313; zu Heinrich Graetz s.: Brenner, Propheten der Vergangenheit, S. 79–111; Römer, Graetz.
[3] Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 3, S. 108; zu Dubnow s.: Brenner, Propheten der Vergangenheit, S. 129–146; Dohrn, Einführung.
[4] Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, S. 304, 343.
[5] EncyclopAedia Judaica, Population 2007, Bd. 16, Sp. 396f.
[6] Zur Entwicklung der jüdischen Geschichtsschreibung s.: Herzig, Juden und Judentum in der sozialgeschichtlichen Forschung; Brenner, Propheten der Vergangenheit; Brenner, Jüdische Geschichte lesen; zur aktuellen Diskussion s.: Brenner, Jüdische Geschichtsschreibung.
[7] Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 1, S. 3; Bd. 4, S. 266, 344f.
[8] Ebd. Bd. 5, S. 34.
[9] Ebd. Bd. 5, S. 202.
[10] Ebd. Bd. 5, S. 248.
[11] Ebd. Bd. 6, S. 82.
[12] Ebd. Bd. 6, S. 189.
[13] Ebd. Bd. 7, S. 243.
[14] Ebd. Bd. 7, S. 330.
[15] Ebd. Bd. 9, S. 356.
[16] Ebd. Bd. 10, S. 27.
[17] Ebd. Bd. 11, S. 177.
[18] Ebd. Bd. 11, S. 428.
[19] Ebd. Bd. 11, S. 548.
[20] Zu Theodor Reinach s.: Simon-Nahum, Historiographie des Judentums in Frankreich, S. 112–114; Brenner, Propheten des Vergangenen, S. 69f.
[21] Reinach, Histoire des Israélites, S. 305.
[22] Ebd., S. 310–370.
[23] Ebd., S. 306f.
[24] Zu Castelli s.: Luzzatto-Vogher, Die jüdische Geschichtsschreibung in Italien, S. 117f.
[25] Castelli, Gli Ebrei, S. VIII.
[26] Ebd. S. 397.
[27] Ebd. S. 402.
[28] Ebd. S. 428.
[29] Ebd. S. 445–447.
[30] Zu Philippson s.: Schmidt, Martin Philippson; Wyrwa, Die europäischen Seiten der jüdischen Geschichtsschreibung, S. 28–30.
[31] Philippson, Neueste Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. 1, S. 3.
[32] Ebd. S. 230.
[33] Schmidt, Martin Philippson, S. 54.
[34] Staal, Israel onder de Volkeren; zu Staal s.: Brenner, Propheten des Vergangenen, S. 317f.
[35] Staal, Israel onder de Volkeren, S. 134–151.
[36] Engelhardt, Die Encyclopaedia Judaica, S. 4.
[37] Wischnitzer, Die Juden in der Welt, S. 3.
[38] Ebd. S. 5.
[39] Ebd. S. 7.
[40] Schulte, Die jüdische Aufklärung, S. 114–118.
[41] Gans, Vorlesungen über die Geschichte der Juden, S. 95–113; zu Gans s. Reissner, Eduard Gans.
[42] Gans, Halbjähriger Bericht, April 1822, zit. nach: Reissner, Eduard Gans, S. 71f.
[43] Ebd. S. 87.
[44] Zu Zunz s.: Glatzer, Leopold Zunz. Jude – Deutscher – Europäer.
[45] Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden [1832], in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 32.
[46] Zunz, Beleuchtung der Théorie du judaisme [1830], in: Ebd. S. 271.
[47] Zunz, Juden [1845], in: Ebd. S. 86–99.
[48] Zunz, Stenographischer Bericht, in: Ebd. S. 302.
[49] Zunz, Selbstregierung [1864], in: Ebd. S. 347.
[50] Zunz, Revolution [1865], in: Ebd. S. 353f.
[51] Zunz, Die hebräischen Handschriften in Italien [1864], in: Ebd. Bd. 2, S. 1.
[52] Heine, Aphorismen, S. 706.
[53] Zu Jost s.: Schulin, »Das geschichtlichste Volk«, S. 138–142.
[54] Jost, Geschichte der Israeliten, Bd. 1, S. VIII.
[55] Jost, Neuere Geschichte der Israeliten, Bd. 1, S. 16.
[56] Jost, Geschichte des Judentums und seiner Sekten, Bd. 3, S. 285.
[57] Jost, Allgemeine Geschichte des Israelitischen Volkes, Bd. 1, S. 544.
[58] Jost, Neuere Geschichte der Israeliten, Bd. 1, S. 43.
[59] Ebd. Bd. 2, S. 87.
[60] Ebd. S. 242.
[61] Ebd. S. 289.
[62] Ebd. S. 324.
[63] Ebd. S. 3.
[64] Jost, Allgemeine Geschichte des Israelitischen Volkes, Bd. 2, S. 494.
[65] Jost, Neuere Geschichte, Bd. 2, S. 325.
[66] Ebd. S. 3.
[67] Ebd. S. 219.
[68] Ebd. S. 338.
[69] Ebd. S. 382.
[70] Glatzer, Aus unveröffentlichten Briefen von Jost, S. 411.
[71] Servi, Gli Israeliti d’Europa nella Civiltà; zu Servi s.: Di Porto, »Il Vessillo Israelitico«, S. 349f.
[72] Servi, Gli Israeliti d’Europa nella Civiltà, S. 5.
[73] Ebd. S. 10.
[74] Ebd. S. 15–17.
[75] Ebd. S. 110.
[76] Ebd. S. 111.
[77] Ebd. S. 112.
[78] Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes; zu Dubnow s.: Dohrn, Einführung.
[79] Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, S. 127.
[80] Ebd. S. 167.
[81] Ebd. S. 182.
[82] Ebd. S. 188.
[83] Ebd. S. 251.
[84] Ebd. S. 272.
[85] Ebd. S. 283.
[86] Ebd. S. 304.
[87] Ebd., Bd. 2, S. 154.
[88] Ebd. S. 211.
[89] Ebd. S. 275.
[90] Ebd. S. 276.
[91] Ebd. S. 289.
[92] Ebd. S. 331.
[93] Ebd. Bd. 3, S. 75.
[94] Ebd. S. 97.
[95] Ebd. S. 108.
[96] Ebd. S. 145.
[97] Diner, Geschichte der Juden – Paradigma einer europäischen Historie.
[98] Momigliano, Carlo Cattaneo e gli stati uniti d'Europa; zu Momigliano s.: Cavaglion, Felice Momigliano.
[99] Momigliano, Carlo Cattaneo e gli stati uniti d'Europa, S. 54.
[100] Czynski, La question des Juifs polonais envisagée comme question européenne.
[101] Czecha, Rys krótki ludu zydowskiego w Europie; ein Hinweis auf diese Schrift findet sich in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I HA, Rep. 77, Abt. II, Sekt. 9, Tit. 2, Gen. Nr. 53; für das Aufspüren des polnischen Originals danke ich Maciej Moszyński.
[102] Loewenthal, Mein Lebenswerk, S. 32f.
[103] Siemsen, Ein Leben für Europa. In memoriam Joseph Bloch.
[104] Eloesser, Vom Ghetto nach Europa.
[105] Ebd. S. 10.
[106] Ebd. S. 28.
[107] Ebd., S. 96.
[108] Ebd., S. 240.
[109] Ebd. S. 289.
[110] Stern, Über die zwölf Artikel der Bauern aus dem Jahre 1525.
[111] Stern, Milton und seine Zeit.
[112] Stern, Wissenschaftliche Selbstbiographie, S. 23–27.
[113] Ebd. S. 26.
[114] Stern, Geschichte Europas, Bd. 1, S. VII.
[115] Ebd. Bd. 1, S. 2.
[116] Ebd. Bd. 7, S. V–VI.
[117] Stern, Geschichte Europas, Bd. 10, S. V.
[118] Wolf, Antisemitism, S. 134–146.
[119] Roth, The Jewish Contribution to Civilisation.
[120] Ebd., S. 279.
[121] Roth, The Jew as a European, S. 3, 11.
[122] Zur Entstehung und Entwicklung der zionistischen Geschichtsschreibung s.: Myers, David N.: Re-Inventing the Jewish Past. Zur zionistischen Geschichtsschreibung als dem vierten Narrativ der jüdischen Historiographie neben dem universalgeschichtlichen, dem regional- und lokalgeschichtlichen sowie dem liberal-staatsbürgerlichen, s.: Wyrwa, Narratives of Jewish Historiography in Europe.
[123] Baron, Ghetto und Emanzipation (1928), in: Brenner, Jüdische Geschichte lesen, S. 229–241, hier S. 241.
[124] Baron, A Social and Religious History of the Jews, Bd. 1, S. 21; s. a. Ders., Sozial- und Religionsgeschichte der Juden (1952), in: Brenner, Jüdische Geschichte lesen, S. 75.
[125] Baron, Weltdimensionen der jüdischen Geschichte (1962), in: Ebd. S. 151–154.
[126] Elbogen, Die Geschichte der Juden in Deutschland; zu Elbogen, s.: Hoffmann, Jüdische Geschichtswissenschaft in Deutschland, S. 136.
[127] Wyrwa, Jüdische Geschichtsschreibung als histoire croisée.
[128] Roth, The European Age in Jewish History; danach auch: Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden.
[129] Diner, Geschichte der Juden – Paradigma einer europäischen Historie, S. 85.
[130] Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 428.
ZITIEREMPFEHLUNG
Ulrich Wyrwa, Das Bild von Europa in der jüdischen Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 76–95.
URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.
URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.
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