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Herbert Uerlings *
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Inhaltsverzeichnis |
Gliederung: Geschichte und Kairos
Frühromantisches Europa
Fazit und offene Fragen
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Zitierempfehlung
Text:
Friedrich von Hardenbergs Europa-Rede ist ein denkwürdiger Text. Dafür gibt es vier Gründe: (1) Diese im November 1799 im Jenaer Freundeskreis vorgetragene Rede kündete »zum ersten mal öffentlich in deutscher Sprache von der Vision einer europäischen Gemeinschaft – genau zweihundert Jahre vor der Etablierung des Euro«[1]. (2) Auf keinen zweiten Text wird bis heute so oft Bezug genommen, wenn es in historischer Perspektive in der Europa-Essayistik um die Bestimmung einer kulturellen Identität des Kontinents geht. (3) Kein zweiter Text zu Europa ist so umstritten wie diese Rede.[2] (4) Hardenbergs Europa-Rede, und auf diesen Aspekt müssen sich die folgenden Ausführungen beschränken, ist aus inhaltlichen Gründen ein denkwürdiger, auch des Nach-Denkens würdiger Text.
Die unter dem Titel »Die Christenheit oder Europa« bekannt gewordene Schrift ist, gerade auch aus der Sicht ihres Verfassers, Ausdruck einer ganz bestimmten Zeitstunde. Im Spätherbst 1799, nach damaliger Zeitrechnung unmittelbar vor Anbruch des neuen Millenniums, soll den Zeitgenossen die menschheitsgeschichtliche Bedeutung der aktuellen Situation vor Augen geführt werden, um sie zum Ergreifen des geschichtlichen Kairos aufzufordern.
Dabei geht es zum einen, das wird am Ende der Rede deutlich genug ausgesprochen, um einen konkreten Friedensschluss. Novalis’ Europa-Rede ist ein Aufruf zu einer religionsgestützten überkonfessionellen Friedenspolitik. Damit sollte das von den Koalitionskriegen erschütterte Europa aus dem Zustand immer wieder erneut geschlossener und gebrochener Waffenstillstände befreit und dem Ideal eines ›ewigen Friedens‹ näher gebracht werden. Hardenbergs Vorschlag ist Teil der durch Kants Schrift Vom ewigen Frieden (1795) inspirierten Debatte um eine neue Friedensordnung in Europa, eine Diskussion, an der sich auch ein weiterer Frühromantiker, Friedrich Schlegel, mit seinem Versuch über den Begriff des Republikanismus (1796) beteiligt hatte. In dieser Debatte ging es aber, zumal wenn sie mit chiliastischen Untertönen geführt wurde, um weit mehr als um Friedenspolitik, und so ist auch die Europa-Rede mehr als ein politischer Aufruf.
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Die Erfahrung, in einem seit der Französischen Revolution von Kriegen erschütterten Kontinent zu leben, verband sich bei den Frühromantikern mit einer Kritik der neuzeitlichen Legitimation des Staates. Die naturrechtliche Vertragstheorie, nach der die Bürger zugunsten der Befriedigung vitaler Interessen und Bedürfnisse einen gewissen Zwang in Gestalt von Gesetzen akzeptieren, implizierte aus frühromantischer Sicht eine nicht akzeptable Trennung von Staat und Gesellschaft sowie von Politik und Moral und galt als der Keim permanenter inner- und zwischenstaatlicher Krisen und Kriege. Die Französische Revolution hatte in dieser Sicht weder das Legitimationsdefizit des Staates beseitigt, noch die Demokratie als eine Staatsform empfohlen, unter der sich Wahrheit und Moralität leichter durchsetzen könnten; sie schien darüber hinaus die Stabilität nicht nur des französischen Staates auf Dauer zu gefährden. Während andere Staatstheorien des 18. Jahrhunderts – die von Rousseau, Montesquieu, aber auch Kant und Fichte – versuchten, die Spannung zwischen politischem und gesellschaftlichem Willen innerhalb des naturrechtlichen Rahmens zu mildern, griff Novalis auf die integrierende Kraft der Religion zurück, die für ihn Priorität vor der Frage der Staatsform hatte. Die in der Neuzeit verloren gegangene Einheit von Politik und Religion sollte also wiederhergestellt werden. Die Religion – eine neue Religion (wie noch zu zeigen sein wird) – sollte ihre Einheit stiftende Leistung aber gerade unter Wahrung der als spezifisch modern geltenden Freiheit, der Autonomie des Subjekts, erbringen. Das wird in Hardenbergs sog. ›Staatsschrift‹ Glauben und Liebe gewissermaßen innerstaatlich, in der Europa-Rede dagegen im Blick auf eine internationale Friedensordnung unter dem Vorzeichen der ›Liebe‹ entwickelt. Ähnlich wie in Hegels gleichzeitigen Überlegungen soll die (uneigennützige) Liebe die Kraft sein, mittels derer die vielen endlichen Einzelnen sich selbst als Individuen und damit den Staat hervorbringen und vollenden sollen. Die neue Gesellschaft, der »poetische Staat«, wäre eine »freye Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen« (II,457:95)[3].
Aus der Sicht der Frühromantiker ist dies gewissermaßen die ›Teleologie von Europa‹: die »freye Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen«, und das Jahr 1799 ist, aus noch darzulegenden Gründen, der Kairos: Jetzt ist der geeignete Zeitpunkt zur Verwirklichung Europas – deshalb der Aufruf an die gebildete bzw. politische Klasse Europas. Es geht also um Geschichte, Gegenwart und Zukunft Europas.
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Der näheren Untersuchung dieses Europa-Konzepts seien zwei philologische Anmerkungen vorangestellt. Die erste betrifft die Textsorte: Es handelt sich um eine Rede, genauer gesagt um die Gattung der aristotelischen Parteirede, der Oratio deliberativa. Deren Ziel ist es, die Zuhörer zu eingreifendem Handeln aufzufordern, und zu diesem Zwecke darf sie sich gewisser Lizenzen bedienen, insbesondere bei der Darstellung der Vergangenheit und Gegenwart. Dies hervorzuheben ist wichtig, weil es in der Vergangenheit immer wieder zu Fehllektüren gekommen ist: Man darf das Mittelalterbild der Europa nicht mit dem Friedrich von Hardenbergs gleichsetzen, denn es handelt sich nicht um eine historiographische Abhandlung, sondern um eine gezielt parteiliche Darstellung. Das aber konnten oder wollten schon seine Jenaer Hörer von 1799, der eigene aufgeklärt-protestantische Freundeskreis, nicht realisieren. Sie reagierten mit Unverständnis, Ablehnung und satirisch-ironischem Widerspruch.[4]
Die zweite Anmerkung bezieht sich auf den Titel der Rede. Die geläufige Überschrift »Die Christenheit oder Europa« stammt nicht von Novalis, sie wurde – von wem, ist unbekannt – erst lange nach seinem Tod geprägt und ist also auch nicht autorisiert. Novalis selbst hat seine Rede schlicht »Europa« (an Friedrich Schlegel, 31. Januar 1800; IV,317) genannt und dabei sollte es bleiben.
Das Ziel der Rede ist die Aufforderung zur Herstellung des »ewigen Friedens« (III,524) durch eine umfassende, auch die konfessionellen Grenzen hinter sich lassende geistig-religiöse Erneuerung unter frühromantischen Vorzeichen. Als eine Art Vorbild für den heraufzuführenden künftigen Zustand wird die frühmittelalterliche katholische Christenheit beschrieben.
Entsprechend den Regeln der Rhetorik einer Oratio deliberativa geht es dabei um Plausibilitätsstützung, was bedeutet: die Darstellung kann und soll parteiisch sein, sie muss aber auch auf Tatsächliches rekurrieren. Novalis leistet dies, indem er eine auf historiographische Quellen und psychologische Wahrscheinlichkeit gestützte Darstellung des Mittelalters liefert. So entsteht ein Bild dieser Zeit, das – gemessen am damaligen Kenntnisstand der Historiographie – Wahrscheinlichkeit und historische Glaubwürdigkeit beanspruchen darf. Sinn und Zweck dieser Konstruktion ist die Beglaubigung der am Ende der Rede entworfenen Zukunftsutopie.
Dabei geht es nicht um die Wiederherstellung frühmittelalterlicher Zustände, sondern gemäß der Auffassung, dass der Stoff der Geschichte »fortschreitende, immer mehr sich vergrößernde Evolutionen« (III,510) seien, fordert der Sprecher dazu auf, den gegenwärtigen Kairos zu nutzen und etwas, das in seiner Perspektive bereits einmal Gestalt gewonnen hat, auf einer höheren Stufe erneut herzustellen.
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Die mittelalterliche Welt wird deshalb zunächst ganz positiv gezeichnet. Im Mittelpunkt steht die Einheit Europas, dessen politische Mächte durch den gemeinsamen Glauben geeint waren und dessen Bürger in einer lebendigen und anschaulichen Religion Sicherheit, Orientierung und Trost fanden. »Glauben und Liebe« (III,510) herrschten, ermöglicht durch eine Geistlichkeit, deren wichtigste Aufgabe es war, die »Ersten unter den Menschen an Geist, Einsicht und Bildung zu seyn« (III,510).
Noch im Mittelalter aber sei diese Geistlichkeit dann in eine »[u]nendliche Trägheit« verfallen und habe sich »Erfahrung und Gelehrsamkeit« (ebd.) von den Laien nehmen lassen müssen. Damit sei eine Kultur entstanden, die für den »Sinn des Unsichtbaren« (III,509) schädlich geworden sei. An die Stelle von »Glauben und Liebe« seien »Wissen und Haben« (III,510) getreten. Verband ursprünglich alle »Ein großes gemeinschaftliches Interesse« (III,507), so tritt jetzt an die Stelle des »unendlichen Glauben[s]« das »eingeschränkte Wissen« (III,508) und aus einer – von der Kirche vorgelebten – Besitzlosigkeit wird das »Haben« (III,510). Hinter dieser Kritik des ›Wissens und Habens‹ steht letztlich die romantische Kritik an der Aufklärung: der Besitzindividualismus ist ein Kernstück der aufklärerischen Naturrechtslehre und der Ich-Philosophie (Hobbes, Rousseau, Fichte).
Mit diesem Mittelalter-Bild setzt sich der Sprecher der Rede in schroffen Gegensatz zur herrschenden Auffassung, d.h. zur Aufklärungshistoriographie, wie sie Iselin, Spittler, Pütter oder Zimmermann vertraten. Ihnen galt das Mittelalter als Zeit der Barbarei und das Papsttum als unerträgliches Joch. Novalis konnte aber anschließen an Werke anderer bedeutender Historiker, vor allem an Johannes von Müllers Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft (1786–95) sowie Edward Gibbons Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches (1776–88). Wesentliche Gedanken finden sich bereits hier. Müller beschrieb das frühmittelalterliche Europa als ein großes Gemeinwesen, das durch den Glauben und die päpstliche Hierarchie zusammengehalten wurde und eine europäische Bundesrepublik begünstigte. Bei Gibbon wird die weltgeschichtliche Dimension der christlichen Religion betont, die bei Novalis als »religiöses[s] cosmopolitische[s] Interesse« (III,512) erscheint, das über die Staatsgrenzen hinweg Einheit stiftende Wirkung habe. Im Zuge der Vorarbeiten notiert Novalis einmal: »Kein Umstand in der Religionsgeschichte ist merckwürdiger, als die neue Idee im entstandnen Xstenthum, einer ›Menschheit‹ und einer ›allgemeinen Religion‹« (III,579:193). Bei Gibbon fand Novalis ferner eine Darstellung des Wunderglaubens und des Heiligen- und Reliquienkults, die vom Geschichtsschreiber, trotz einer skeptischen Distanz, dann auch noch historisch legitimiert wird. Novalis führt diese Tendenz fort zu einer Aufwertung unter mentalitätsgeschichtlichem Vorzeichen und dem einer psychologischen Wahrscheinlichkeit. Sowohl Müller als auch Gibbon sehen ferner im moralischen und geistigen Verfall der päpstlichen Hierarchie den Grund für den bereits im Mittelalter beginnenden Niedergang dieser Kultur. Novalis konnte sich also auf bedeutende historiographische Werke seiner Zeit stützen. Das in der Europa entworfene Bild des frühen Mittelalters verband auf eigentümliche Weise – gemessen an den damaligen Maßstäben und Kenntnissen – historische Faktizität und Utopie, beides lizenziert und gefordert durch die Rhetorik der Oratio deliberativa, der aristotelischen Parteirede, die die parteiische, aber plausibilitätsgestützte Darstellung verlangt.[5] An die Darstellung des Mittelalters schließt sich, beginnend bereits mit der Verfallsbeschreibung, die einer krisenhaften Entwicklung an. Sie führt bis in die Gegenwart, d.h. bis zur Aufklärung, denn die Französische Revolution wird dann wieder unter dem Vorzeichen einer neuen Zeit gesehen.
Die europäische Geschichte zwischen Frühmittelalter und Gegenwart erscheint als »Oszillation, ein Wechsel entgegengesetzter Bewegungen« (III,510), die im Rückblick als »fortschreitende, sich vergrößernde Evolution« erkennbar wird. Das führt dazu, dass, was in der Rezeption häufig übersehen wurde, die Entwicklungen, die zur Moderne geführt haben, nicht nur negativ, sondern auch positiv bewertet werden.
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So wird die erste große, geschichtsträchtige Entgegensetzung, der Protestantismus, damit gerechtfertigt, dass er die Freiheit des Gewissens in Religionsdingen durchgesetzt habe – allerdings um einen hohen Preis: die Kirchenspaltung. Außerdem habe er durch die Errichtung landesfürstlicher Konsistorien (seit 1542), den Augsburger Religions- und Landfrieden (1555) und das Schriftprinzip seine Errungenschaft wieder zunichte gemacht. Letztlich habe der Protestantismus so dazu beigetragen, dass das Christentum seinen »großen politischen friedestiftenden Einfluß« (III,512) verloren habe und der »religiöse Sinn« nachhaltig geschädigt worden sei.
Auch die – in der Logik dieser Rede – zweite große Bewegung der europäischen Geschichte, die Aufklärung, wird ambivalent beurteilt. Novalis, der an die führenden Vertreter der deutschen Aufklärung – Lessing, Kant – anschließt, übt, wie alle Romantiker, gleichzeitig schärfste Kritik an jenen Formen der Aufklärungsphilosophie, die für die Religion, oder, wie es in einer bezeichnenden Verallgemeinerung heißt, für »alle« »Gegenstände des Enthusiasmus« (ebd.) keinen Raum lassen. Gemeint sind damit der Materialismus der französischen Aufklärung, der Rationalismus und der Deismus. Diese Formen der Aufklärung machen, wie es in Hardenbergs eindrucksvoller und viel zitierter Metaphorik heißt, »die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey« (ebd.).
Die Aufklärung kulminiert in der Französischen Revolution, in der der Sprecher »eine zweite Reformation, eine umfassendere und eigenthümlichere« (III,517) sieht. Wie die erste Reformation entzündet sie sich an einem »Mangel an Freiheit« (ebd.), verschärft aber dann die geistige Krise. Allerdings wird diese Krise diesmal so weit zugespitzt, dass die Voraussetzungen für eine grundlegende Veränderung geschaffen sind. Denn die »zweite Reformation« hat zur Abdrängung alles Religiösen in den Privatbereich geführt, was als notwendige Befreiung von erstarrten äußeren Formen begrüßt wird. Das schlechte Alte soll vollständig untergehen: »Soll die Revolution die französische bleiben, wie die Reformation die Lutherische war?« (III,518), lautet die rhetorische Frage. In diesem Zusammenhang wird auch das Ende der katholischen Kirche in ihrer überlieferten Form gefordert bzw. als bereits erfüllte Bedingung der Erneuerung der Christenheit benannt. Denn durch die französische Besetzung des Kirchenstaates, den Tod Pius VI. und das Verbot einer Neuwahl war aus der Sicht des Sprechers das Ende des Papsttums gekommen. Über den Katholizismus urteilt er daher: »Seine zufällige Form ist so gut wie vernichtet, das alte Pabstthum liegt im Grabe, und Rom ist zum zweytenmal eine Ruine geworden« (III,524). Hinzu kommt an dieser Stelle der Rede der Zusammenbruch der Staatskirche des Ancien régime in Frankreich, einem katholischen Land und zugleich dem, »das am meisten modernisirt war, und am längsten aus Mangel an Freiheit in asthenischem Zustand gelegen hatte« (III, 517). In Frankreich erkennt der Sprecher – er spielt dabei auf den Kult des Höchsten Wesens in der Revolution an – auch die Keime eines neuen Religionsverständnisses. Dennoch aber gilt die Französische Revolution nur als gewissermaßen der vorletzte Schritt in der Geschichte des ›Mündig-Werdens‹ Europas. Novalis geht es, wie er in einer Entwurfsnotiz festhält, um die »Teleologie der Revolution« (III,575:157), und um diese zu vollenden, um einen Rückfall in eine halbe Aufklärung zu verhindern, müssten religiöse Ideen wieder zwischen weltlich-politischen Kräften und Interessen vermitteln. Ohne dieses religiöse Element bleibe der »Staatsumwälzer«, wie das Beispiel Frankreich zeige, ein »Sisyphus« (III,517).
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Hier berechtige nun die Entwicklung in Deutschland zu den größten Hoffnungen, vor allem die in Philosophie, Wissenschaften und Künsten. Damit kommt ein neuer, wichtiger Aspekt der europäischen Geistesgeschichte ins Spiel. In einer überraschenden gedanklichen Wende wird erläutert: »Wo keine Götter sind, walten Gespenster, und die eigentümliche Entstehungszeit der europäischen Gespenster, die auch ihre Gestalt ziemlich vollständig erklärt, ist die Periode des Uebergangs der griechischen Götterlehre in das Christenthum« (III,520 f.).
Auch dieser Satz, d.h. bezeichnenderweise nur seine aus dem Kontext gerissene erste Hälfte: »Wo keine Götter sind, walten Gespenster«, wurde immer wieder zum Beleg für Hardenbergs angebliches Rekatholisierungsprogramm missbraucht. Gemeint ist etwas anderes. Novalis beschreibt die spätantike Entstehung der hermetischen Tradition, die bis ins 18. Jahrhundert hinein neben der neuzeitlichen Wissenschaft herlief und in den Geheimgesellschaften jener Zeit, die der Sprecher der Europa zuvor als »jetzt noch unreifen, aber gewiß wichtigen geschichtlichen Keim [...]« (III,514) bezeichnet hatte, eine große Rolle spielte.
»Das neue Religionskonzept soll durch die Wiedervereinigung von Glauben und Vernunft den neuzeitlichen Gegensatz von glaubensloser Wissenschaft und alchemistisch-magischem Aberglauben überwinden, der im Sinne Hardenbergs immer auf ein wahres Bedürfnis verwiesen hatte. Zudem soll eine mit dem Christentum verbundene Naturphilosophie[6] die Wiederkehr der Götter auf neuer Stufe ermöglichen und damit die ›Gespenster‹ der hermetischen Naturphilosophie – auch sie Ausdruck eines legitimen Bedürfnisses nach Vergeistigung der Natur – bannen«.[7]
Die intellektuellen Träger dieser Entwicklung sind – natürlich – die Frühromantiker (Novalis, die Brüder Schlegel, Tieck, Schelling, Schleiermacher, der Physiker Johann Wilhelm Ritter u.a.) und diejenigen, bei denen es verwandte Bestrebungen gab, d.h. aus Hardenbergs Sicht allen voran Goethe.
In der Jetztzeit der Rede, dem geschichtlichen Kairos, dem Anbruch der »neuen goldenen Zeit« nehmen die Frühromantiker damit die Position ein, die im frühen Mittelalter, der »alten goldenen Zeit«, die Geistlichkeit innehatte: die »Ersten unter den Menschen an Geist, Einsicht und Bildung« (III,510) zu sein. Die intellektuelle Avantgarde Deutschlands wird in der Europa-Rede dazu aufgerufen, Träger und Förderer der Einheit von Religion, Wissenschaft und Kunst zu werden. Diese Elite könne diese Funktion wahrnehmen, weil sie das Problem der Freiheit gelöst und »einer höhern Epoche der Cultur« (III,519) zugearbeitet habe, die nicht mehr dem »Sinn des Unsichtbaren« (III,509) schädlich sei.
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Erst jetzt wendet sich der Sprecher dem Thema zu, das bei der Konzeption der Rede den Ausgangspunkt bildete, »dem politischen Schauspiel unsrer Zeit« (III,522), und entwickelt jenen Gedanken, der bei der Beschreibung der Lage Frankreichs schon auftauchte:
»Es ist unmöglich daß weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht setzen, ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen. Unter den streitenden Mächten kann kein Friede geschlossen werden, aller Friede ist nur Illusion, nur Waffenstillstand; auf dem Standpunkt der Kabinetter, des gemeinen Bewußtseyns ist keine Vereinigung denkbar« (ebd.).
Diese Einschätzung war im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, und im Blick auf die spätere Entwicklung ist man versucht, Novalis recht zu geben: Die Balance-of-power-Politik Metternichs wurde eher zum Problem als zur Lösung. Novalis war nicht der einzige, der solcher Taktik von vornherein skeptisch gegenüberstand. Er folgt hier – bis in die Wortwahl hinein – Kants Zum ewigen Frieden. Wie Kant sein Zielbild eines europäischen Völkerbundes (ähnliche Überlegungen gibt es auch in Aufzeichnungen Hardenbergs) und eines durch eine Weltrepublik herzustellenden ewigen Friedens durch Ideen der Vernunft legitimiert bzw. aus diesen Postulaten abgeleitet hatte, so will auch der Sprecher der Europa-Rede Politik in Ideen fundieren. Dazu wählt er den Topos der »neuen, dauerhafteren Kirche« (III,524), die an die Stelle des Papsttums und des Protestantismus treten soll. Von einer »neuen Kirche« hatten auch Kant, Schleiermacher und Hölderlin gesprochen. Damit war zunächst einmal nur eine Vereinigung von Menschen auf der Grundlage gemeinsamer, für ihr Handeln als verbindlich angesehener Vernunft-Ideen gemeint – in den Worten von Kants Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793): eine Vereinigung unter einer göttlichen moralischen Gesetzgebung. Aus Kants Umdeutung des religiösen zum ›philosophischen‹ Chiliasmus stammt auch die Topik des Rede-Schlusses. Der von Hardenberg ersehnte ewige Frieden, die neue goldene Zeit, ist, in frühromantischer Sicht, nur in Form einer unendlichen Annäherung zu verwirklichen, die zugleich moralisch geboten ist. Alle Zielvorstellungen der Rede enthalten den Grund zu einer unendlichen Annäherung, sie sind Postulate.
Die Religion sollte künftig, anders als im Frühmittelalter, ihre Einheit stiftende Leistung gerade unter Wahrung der Freiheit, der Autonomie des Subjekts, erbringen. Das »heimliche Mündigwerden« der Menschen, das Erlangen der Subjektautonomie, bezeichnet, trotz aller Widrigkeiten und Rückschläge, den roten Faden der Entwicklung Europas. Die noch herzustellende »neue Kirche« soll die »ächte Freiheit« (III,542) bringen.
Von dieser war in der alten Goldenen Zeit nicht die Rede. Um diese Freiheit hatten daher die Französische Revolution und der Protestantismus vergeblich gerungen. Deshalb wird die in der Rede propagierte »Regeneration von Europa« als Ziel der »Teleologie der Revolution« (III,575:153) verstanden.
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In der Rede selbst macht der Sprecher regen Gebrauch von der »ächte[n] Freiheit« (III,524) gegenüber der theologischen Orthodoxie, vor allem bei der abschließenden bündigen Bestimmung dessen, was denn das Christentum eigentlich sei:
»Das Christenthum ist dreifacher Gestalt. Eine ist das Zeugungselement der Religion, als Freude an aller Religion. Eine das Mittlerthum überhaupt, als Glaube an die Allfähigkeit alles Irdischen, Wein und Brod des ewigen Lebens zu seyn. Eine der Glaube an Christus, seine Mutter und die Heiligen. Wählt welche ihr wollt, wählt alle drei, es ist gleichviel, ihr werdet damit Christen und Mitglieder einer einzigen, ewigen, unaussprechlich glücklichen Gemeinde« (III,523).
Bei dieser dreifachen Gestalt des Christentums handelt es sich in Wahrheit um eine frühromantisch inspirierte Zukunftsreligion, bei der das Mittlerprinzip im Zentrum steht, d.h. bei der grundsätzlich alles Irdische geheiligt – oder wie der poetologische terminus technicus lautet: ›romantisiert‹ – werden kann. Diesem Interesse an einer Mittlerreligion entspringt auch die eigentümliche Zeichnung der vorreformatorischen Religiosität in der Europa-Rede. Novalis spricht in seinen Randbemerkungen zu Friedrich Schlegels ›Ideen‹ von einer »heiligen Revolution« (III,493), darin gehe es um einen »Messias im Pluralis« (III,493), der »in tausend Gliedern zugleich« (III,519) empfangen werden soll. Die Abgrenzung des Christentums von den übrigen Religionen wird aufgelöst, und die christliche Religion als »symbolische Vorzeichnung einer allgemeinen, jeder Gestalt fähigen, Weltreligion« (an Just, 26.12.1798; IV,272) bezeichnet. Dadurch wird – auch innergesellschaftlich – die Möglichkeit eines religiösen Pluralismus eröffnet, und es wird deutlich, warum und inwiefern die Frühromantiker dem Christentum eine zentrale Rolle einräumen: Es geht nicht nur um den Bekanntheitsgrad der christlichen Mythologie, d.h. die Tatsache, dass es sich um eine bereits etablierte und deshalb für eine Gemeinschaftsstiftung besonders gut geeignete Kollektivsymbolik handelt, sondern es geht vor allem darum, dass das Christentum, jedenfalls ein frühromantisch interpretiertes, nach Hardenbergs Überzeugung wie keine zweite Religion wesentliche Prinzipien der Moderne verkörpert: Selbstreflexivität, geistige Freiheit, unendliche Perfektibilität und die Relativität der dogmatischen und institutionellen Form. Das sind Kriterien moderner Religiosität, die, aus der Sicht der Frühromantiker, in den philosophisch-theologischen Debatten der 1790er Jahre entwickelt wurden und an denen sich die historischen Gestalten und Formen des Christentums wie jede andere Form von Religiosität messen lassen muss. Zur Modernität des Christentums gehört aus frühromantischer Sicht, dass es seine historische Gestalt überschreitet und neue Religionen und neue Offenbarungen hervortreibt.
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Die frühromantische Mittlerreligion ist eine Antwort auf die religiöse Situation der 1790er Jahre, d.h. den Streit um das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, und der Versuch einer modernen Antwort auf die Säkularisierung. Die Mittlerreligion vermittelt geistige Autonomie mit Transzendenz, indem sie im Bewusstsein hält, dass die symbolische Vergegenwärtigung des Absoluten nicht dessen Real-Präsenz bedeutet und deshalb unendlich viele Offenbarungen möglich sind.
Die Mittlerreligion und ihre ›Neue Mythologie‹ sind aber auch zu verstehen als Lösungsvorschlag für Probleme der zeitgenössischen (Natur-)Wissenschaften. Der frühromantische Vorschlag, den von der Metaphysik nicht zu lösenden Konflikt zwischen rationalem Deismus und Pantheismus dadurch zu lösen, dass die Erscheinungen als Vermittlung von Transzendenz und Immanenz verstanden werden, erfolgte unter Rückgriff auf die platonistische Auffassung von der »großen Kette der Wesen«, die mit der Vorstellung von der »unendlichen Perfektibilität« verbunden wurde.[8]
Das wichtigste Medium einer so verstandenen religiösen Darstellung und Erfahrung aber wird die Kunst. Sie tritt insofern an die Stelle der Religion, als sie selbst Vergegenwärtigung des Unbedingten in der Phantasie, narrative Konstruktion der Einheit von Immanenz und Transzendenz, Darstellung der Erscheinung des Absoluten in Natur und Geschichte ist. Diese Systemkonkurrenz lässt die etablierten Offenbarungsreligionen nicht unberührt: »Das Xstenthum ist durchaus historische Religion, die aber in die Natürliche der Moral, und die Künstliche der Poesie, oder die Mythologie übergeht.« (III,667:607)[9] Von Mythologie kann Novalis sprechen, weil es um die Versinnlichung von Ideen geht, von ›neuer‹ Mythologie ist die Rede, insofern Erscheinung und Idee nicht zusammenfallen, sondern so aufeinander bezogen werden, dass die Erscheinungswelt zum Mittler, zum Symbol oder zur Allegorie wird. Das ist gemeint mit der anschaubaren Einheit von Erscheinungswelt und Idee in der stetigen Bewegung der Erscheinungen. Während die dichterischen Texte solche Epiphanien des Absoluten inszenieren, wird in der Europa-Rede die historische Religion, das Christentum, poetisiert oder, wenn man so will, romantisiert: Seine Entwicklung, insbesondere die Entstehung des Konfessionsgegensatzes, wird gedeutet als Prozess der Herausbildung einer neuen, frühromantischen Mittlerreligion, die Vernunft und Offenbarung sowie die transzendentalphilosophische Sicherung der Subjektautonomie und die Möglichkeit der Heiligung der gesamten Erscheinungswelt vereinbaren will. Das aber sind die Grundstrukturen der frühromantischen Poesie. An ihnen muss sich messen lassen, was als Religion will auftreten können. Nach der Überzeugung der Frühromantiker kann das Christentum sich daran messen, insofern es sich selbst als die ›ausgezeichnete‹ Mittlerreligion verstehen lässt. Dennoch gilt die selbstbewusste Vermischte Bemerkung Nr. 108: »Wenn der Geist heiligt, so ist jedes ächte Buch Bibel.« (II,462:108) Das ist die Rechtfertigung der frühromantischen Kunstreligion.
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Die Frühromantiker verfügten also über den Begriff einer kulturellen und politisch-geschichtlichen Einheit Europas.[10] Dieser Europa-Begriff der Frühromantik ist erstens ein dynamischer Begriff, in den sowohl deskriptive wie normative Elemente eingehen. ›Europa‹ bezeichnet in dieser Hinsicht eine seit Jahrhunderten andauernde Bildungsgeschichte, aber auch ein noch zu realisierendes Kulturideal: »[D]as eigentliche Europa muß erst noch entstehen«[11], schreibt Friedrich Schlegel in seiner Zeitschrift Europa. In Hardenbergs Europa-Rede hatte dieser Gedanke in dem Grundmodell »fortschreitender, sich vergrößernder Evolutionen« seinen Ausdruck gefunden. Das Konzept ›Europa‹ ist zweitens Ausdruck des Bewusstseins, der ›Moderne‹ anzugehören. ›Europa‹ und ›Moderne‹ gehören im Selbstverständnis der Frühromantiker so eng zusammen, dass sie fast Synonyme sind. Hinzu kommt drittens das Bewusstsein, in einem christlichen Zeitalter zu leben. Das Christentum oder – allgemeiner – die Religiosität, die damit gemeint war, steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Offenbarungsreligion, denn sie ergibt sich aus einer Reflexion über deren historische Erscheinungsform und seine Funktion: Hervorgehoben werden von den Frühromantikern die nur ›symbolische‹ – auf künftige Erscheinungsformen verweisende – Gestalt, die Funktion der Stiftung kultureller Kohärenz und, als spezifische Leistungen der christlichen Religion, die Verknüpfung von Immanenz und Transzendenz, die Verinnerlichung, Individualisierung und Pluralisierung des Gottesbegriffs und das Bewusstsein des unendlichen Wertes der Person.
Das frühromantische Konzept eines im Werden befindlichen, modernen, christlichen Europa ergibt sich weniger aus dem, was als Nicht-Europa von ihm abgegrenzt wird, als daraus, dass es als moderne Antwort auf Probleme der Moderne entworfen wird. Dieser selbstreflexive Charakter des frühromantischen Europa-Konzepts ist selbst das wichtigste Zeichen dafür, dass es in die Moderne gehört.
Das neuartige Zeitbewusstsein der romantischen Generation ist geprägt durch die Erfahrung einer Beschleunigung des Erfahrungswandels, der als irreversibel und damit als Signum der Moderne erfahren wird. Diese Grunderfahrung verbindet sich mit einem »Führungswechsel der Zeithorizonte«[12]: Die Gegenwart ist nicht mehr (oder doch erst in zweiter Linie) Endpunkt der Vergangenheit, sondern Ausgangspunkt für eine prozessual offene und tendenziell unabschließbare Zukunft. Durch diese Zeiterfahrung sind in Form einer selbstbezüglichen offenen Prozessualisierung alle Kategorien geprägt, die im Zuge der frühromantischen Selbstverständigung über Europa entwickelt werden. Die Historisierung des Denkens ist in der Frühromantik, stärker als zuvor und danach, in erster Linie Ausdruck einer durch die Interessen der Gegenwart geleiteten Dynamisierung.
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»Europa ist das Land der Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit, der Bildsamkeit und Künstlichkeit«, resümiert Friedrich Schlegel in seinen Allgemeinen Bemerkungen über Europa und bringt diesen Gedanken auf einen Begriff, den der »Perfektibilität von Europa«[13]. Diese geschichtsphilosophische Denkfigur zeigt sich nirgends deutlicher als in der Idee vom Goldenen Zeitalter. Die Europavisionen der Frühromantiker, besonders deutlich ist dies in Hardenbergs Europa-Rede, sind Konkretionen dieser Utopie eines wiederkehrenden Goldenen Zeitalters.
Mit diesem Grundzug einer selbstreflexiven offenen Prozessualisierung reagiert die Frühromantik auf unterschiedliche Modernisierungsschübe. Diese werden als notwendige, aber sowohl chancenreiche als auch problematische Entwicklungen verstanden, die die gegenwärtige Krisensituation heraufbeschworen haben. Diese Krise ist aus frühromantischer Sicht zugleich Kairos: Europa findet zu sich selbst bzw. wird dazu aufgerufen, dies zu tun.
Aus der Sicht der Frühromantik ist dieses Europa um 1800 Produkt einer Ausdifferenzierung politischer, wissenschaftlicher, religiöser und ästhetischer Diskurse. Die Modernisierungsschübe, auf die die Frühromantiker reagieren und die auch ihre Sicht auf die Französische Revolution prägen, ergeben sich aus der Verzeitlichung und Ausdifferenzierung; sie sind aber unterschiedlicher Art und liegen auf unterschiedlichen Feldern der Kultur. Zu den wichtigsten Themen gehören die Legitimation politischer Herrschaft, die Frage einer angemessenen Konzeption von Natur und (Natur-)Wissenschaft, die Folgen der Säkularisierung und die Funktion der Kunst. Mit ihrer Konzeption des offenen Kunstwerks und der unendlichen Hermeneutik hat die Frühromantik zur Ausdifferenzierung des Teilsystems Kunst entscheidend beigetragen.
Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche wird einerseits unter den Oberbegriffen der ›Bildung‹ und der Subjektautonomie positiv bewertet. Andererseits wird die ›Differenzierung‹ (Trennung) von als zusammengehörig geltenden Bereichen der Kultur als Problem erfahren.
Darauf reagieren die Frühromantiker mit der Forderung nach einer umfassenden kulturellen Erneuerung, die als unabschließbare Zusammenführung des Getrennten konzipiert wird. Darin liegt der Dreh- und Angelpunkt des frühromantischen Europa-Konzepts: die progressive Universalität Europas.
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Blickt man von heute aus auf dieses Konzept zurück und verbindet damit die Frage nach dem Werte- und Normwandel, so lassen sich vier Aspekte festhalten:
Die frühromantischen Überlegungen zu Wert- und Normfragen sind, nicht nur in Hardenbergs Europa-Rede, eng mit Europa verbunden, d.h. sie werden als in Europa entwickelte Konzepte mit universalem Anspruch verstanden.
Das frühromantische Europa lässt sich in politisch-moralischer Hinsicht – schlagwortartig – charakterisieren als ideengesteuert, antimaterialistisch und nicht kapitalistisch-marktwirtschaftlich organisiert. Im Hintergrund steht die feste Überzeugung, dass sich Einzelstaaten und ein Staatenverbund primär auf der Grundlage eines ›Gemeingeistes‹ fundieren lassen. Die naturrechtliche Anerkennung eines prinzipiellen Bruchs zwischen Einzelinteresse und Gemeinwille wird ausdrücklich zurückgewiesen. Von dieser Position aus führt schwerlich ein Weg in den heutigen Pluralismus mit seiner Trennung von Staat und Gesellschaft. Andererseits darf man sich als heutiger Europäer, im Blick auf die jüngste Vergangenheit, aber auch die nähere Zukunft, fragen, ob eine rein wirtschaftsliberale Begründung der EU von den Bürgern (und Politikern) dieses Kontinents als hinreichendes politisches Motiv für die Einigung angesehen wird. – Die frühromantische Orientierung an Werten (Ideen) führt außerdem zu einer Vernachlässigung der Frage der politisch-rechtlichen Organisation. Schärfer formuliert: Die demokratische Partizipation von Massen gehört nicht zum frühromantischen Europa-Konzept und Wertehorizont. (Bemerkenswerterweise hat auch die EU an dieser Stelle bis heute – allerdings jetzt wider besseren Wissens – ein fundamentales Demokratiedefizit.) Aus der Definition Europas primär als Wertegemeinschaft ergeben sich jedoch auch andere, aus heutiger Sicht weniger ›defizitäre‹ Aspekte: Das frühromantische Europa wird nicht geopolitisch, nicht nach dem Konzept eines Bundes von Nationen, und auch nicht als supranationaler Staat, sondern eben als Werte- und Kulturgemeinschaft definiert, dies wiederum geschieht primär nicht in Abgrenzung gegenüber anderen Kulturen, sondern gegenüber der eigenen Vergangenheit.
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Die grundlegende Eigenschaft des frühromantischen Europa ist die unendliche Progressivität, das Bewusstsein des permanenten Normwandels. Das frühromantische Europa ist der Kontinent der Renaissancen, Reformationen und Revolutionen. Die sog. ›positiven Formen‹ in Religion, Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben haben dem Rechnung zu tragen und diesen Wandel zu ermöglichen. Nur unter dieser Voraussetzung gehen nach frühromantischer Überzeugung Subjektautonomie und Vergesellschaftung bzw. ›Gemeinschaftsbildung‹ zusammen. Dieses Prinzip der selbstbezüglichen unendlichen Progressivität oder der Perfektibilität hat im Kontext der Aufklärung bekanntlich noch einen weiteren Namen, der auch sehr präzise benennt, was Novalis mit Europa verbindet, was er selbst in seiner Rede tut und wozu er aufruft: Es ist das Prinzip der (Selbst-)Kritik.
Die frühromantische Bezeichnung für diesen transzendentalen, die Bedingungen der Möglichkeit »ächter Freiheit« sichernden Rahmen lautet ›Religion‹. Dabei spielt das Christentum einerseits eine besondere Rolle, andererseits wird eine Vorstellung von religiösem Pluralismus entwickelt, bei dem sogar die Kunst an die Stelle der Religion treten kann. Zu diesem religiösen Wertehorizont der Frühromantik bzw. der Europa-Rede kurz einige Kommentare:
Zunächst ist auf einige enttäuschte Erwartungen hinzuweisen: Die Hoffnung, das Papsttum und mit ihm die katholische Kirche in ihrer überlieferten Form seien am Ende, erwies sich als trügerisch. Im heutigen Europa gibt es nicht nur keine christliche Einheitskirche, sondern es sind alle Religionen präsent. ›Europa‹ bedeutet heute Vielfalt der Religionen. Nicht erfüllt hat sich außerdem die Hoffnung auf eine ›Physik‹, d.h. eine Naturlehre, die ›Geist‹ und ›Materie‹ wieder vereint und damit ›religiöse Erfahrung‹ wissenschaftlich rehabilitiert.
Die besondere Wertschätzung des Christentums und der religiöse Pluralismus stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Kriterium für die Wertschätzung ist die Trennung von Immanenz und Transzendenz. Europa ist in dieser Sicht der Kontinent der Entdeckung fundamentaler Dualität (zwei Welten, zwei Reiche, Gott und Welt, Offenbarung und Vernunft, Geist und Materie, Glauben und Wissen, Kirche und Staat u.a.m.). Diese Dualität wirkt idealiter als produktive Spannung, d.h. sie schafft den Spielraum für eine Mittlerreligion und damit Subjektautonomie. Es ist fraglich, inwieweit die Frühromantiker diese Struktur auch dem Islam und dem Judentum oder gar den nicht-monotheistischen Religionen zugebilligt haben. Man wird wohl sagen dürfen: Lessings Ringparabel, wonach der Wert einer Religion – oder doch der drei Offenbarungsreligionen – sich daran erweise, welche zu einer besseren moralischen Praxis führe, gilt hier so nicht.
Man muss Hardenbergs Meinung, nur die Religion sei Garant für eine Verbindung von Freiheit und Gleichheit und damit für einen »ewigen Frieden«, nicht teilen. Aus heutiger, zumal aktueller Sicht, leuchtet spontan eher das Gegenteil ein. Allerdings sind fundamentalistische Strömungen aus Hardenbergs Religionsbegriff gerade ausgeschlossen. Wichtiger ist vielleicht etwas anderes: Hardenbergs Begriff der Religion ist so offen, dass er im Kern eigentlich nur noch ein Prinzip der Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem, von Endlichem und Unendlichem, Ding und Unbedingtem, Immanenz und Transzendenz, Empirischem und Absolutem bezeichnet. Das »vereinigende[...], universalisirende Prinzip[...]« (III,512), auf das es Hardenberg in der Europa-Rede ankommt, wird in modernen Staaten nicht mehr durch die Religion verkörpert und garantiert, sondern durch das Recht, genauer gesagt durch eine Rechtskultur, die sich auf die Menschenrechte gründet. Allerdings ist und bleibt auch das hier zugrunde liegende bürgerlich-liberale Modell der wechselseitigen Anerkennung freier Subjekte jeder Erfahrung bzw. jeden ›Beweises‹ entzogen; es ist eine regulative Idee der Vernunft, ein Postulat. Und man könnte die Frage anschließen, ob und inwieweit sich das Funktionieren westlicher Staaten nicht immer noch religiösen Restbeständen verdankt, Milieus, in denen, gewissermaßen kontrafaktisch, Gemeingeist als Postulat praktiziert und eingeübt wird. Jedenfalls hat Europa mit ganz und gar säkularisierten westlich-modernen Staaten noch keine Erfahrung.
Novalis’ Europa-Rede ist, so kann man resümieren, vor allem mit ihren Antworten, manchen falschen Freunden ferner, und, vor allem im Problembestand, vielen Verächtern und vielleicht auch unbefangenen heutigen Lesern näher als gedacht.
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Kasperowski, Ira: Mittelalterrezeption im Werk des Novalis, Tübingen 1994.
Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986.
Lovejoy, Arthur O.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens [1933], Frankfurt/M. 1993.
Luhmann, Niklas: Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: Hans Michael Baumgartner u.a. (Hg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, Frankfurt/M. 1976, S. 337–387.
Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München/Zürich 1992.
Lützeler, Paul Michael (Hg.): Europa. Analysen und Visionen der Romantiker, Frankfurt/M. 1982.
Mähl, Hans-Joachim: Utopie und Geschichte in Novalis’ Rede Die Christenheit oder Europa, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 52 (1992), S. 1–16.
Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, 3., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Aufl. in vier Bänden mit einem Begleitband, Stuttgart 1977 ff.
Schlegel, Friedrich: Allgemeine Bemerkungen über Europa, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Hans Eichner und Jean-Jacques Anstett. Bd. 11: Wissenschaft der europäischen Literatur. Vorlesungen, Aufsätze und Fragmente aus der Zeit von 1795–1804. Mit einer Einleitung und Kommentar hg. von Ernst Behler, München/Paderborn/Wien 1958, S. 15–18.
Schlegel, Friedrich: Reise nach Frankreich, in: Europa. Eine Zeitschrift. Erster Band (1803), S. 5–40.
Schmale, Wolfgang: Geschichte Europas, Wien/Köln/Weimar 2001.
Schulz, Gerhard: »An die Geschichte verweise ich Euch«. Novalis’ Die Christenheit oder Europa zweihundert Jahre später, in: Mitteilungen der Internationalen Novalis-Gesellschaft 4 (2002), S. 9–23.
Stockinger, Ludwig: Die Christenheit oder Europa – eine Lektüre nach 200 Jahren, in: Mitteilungen der Internationalen Novalis-Gesellschaft 4 (2002), S. 25–43.
Stockinger, Ludwig: »Es ist Zeit«. Kairosbewußtsein der Frühromantiker um 1800, in: Manfred Jakubowski-Tiessen u.a. (Hg.): Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 277–302.
Stockinger, Ludwig: Die Auseinandersetzung der Romantiker mit der Aufklärung, in: Helmut Schanze (Hg.), Romantik-Handbuch, Stuttgart 1994, S. 79–105.
Stockinger, Ludwig: »Tropen und Räthselsprache«. Esoterik und Öffentlichkeit bei Friedrich von Hardenberg (Novalis), in: Klaus-Detlef Müller u.a. (Hg.), Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Festschrift für Hans-Joachim Mähl zum 65. Geburtstag, Tübingen 1988, S. 182–206.
Uerlings, Herbert: Das Europa der Romantik. Novalis, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Manzoni, in: Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik 1 (2007), S. 45–80.
Uerlings, Herbert: Novalis (Friedrich von Hardenberg), Stuttgart 1998.
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ANMERKUNGEN
[*] Herbert Uerlings, Prof. Dr., Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Universität Trier.
[1] Schulz, »Geschichte« 2002, S. 9. – Zur Deutung der Rede in der neueren Novalis-Forschung vgl. neben der Arbeit von Kasperowski, Mittelalterrezeption 1994, vor allem: Mähl, Utopie 1992, Stockinger, »Zeit« 1999, Stockinger, Christenheit 2002, Uerlings, Novalis 1998, S. 93–117. Für eine Überblicksdarstellung vgl. zuletzt Uerlings, Europa 2007.
[2] Vgl. Lützeler, Schriftsteller 1992, S. 13 f.: »Hier setzte die intensive essayistische Auseinandersetzung deutschsprachiger Autoren mit dem Europa-Thema ein, und auf keine andere vergleichbare Studie wird während der folgenden 200 Jahre in den Europa-Essays deutschsprachiger Schriftsteller so häufig zurückgegriffen. Novalis’ Rede ist durch ihre vielfältige Rezeption mit Zustimmung und Ablehnung, Affirmation und Kontroverse zu so etwas wie einem Leuchtturm im Meer deutschsprachiger Europa-Essays geworden: Die einen steuern auf ihn los, weil er rettende Ufer verspricht; den anderen signalisiert er eine Gefahrenzone, von der man sich möglichst weit entfernt hält; und dritte halten ihn für ein Museumsstück, dessen Leuchten nur noch Unterhaltungswert besitzt.«
[3] Aus den Werken Friedrich von Hardenbergs wird im fortlaufenden Text nach dem Muster »(Bandzahl, Seite: Nr. einer Aufzeichnung)« zitiert nach der Ausgabe: Novalis, Schriften 1977 ff.
[4] Zur Aufnahme der Rede im Jenaer Freundeskreis vgl. die Einleitung von Richard Samuel (III, S. 497–506, hier S. 498 f.).
[5] Zu Hardenbergs Mittelalter-Bild und seiner Rezeption historischer Quellen wie der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft vgl. Kasperowski, Mittelalterrezeption 1994.
[6] Vgl. Vermischte Bemerkungen Nr. 73, N II,440–444.
[7] Stockinger, »Tropen und Räthselsprache« 1988, S. 206.
[8] Vgl. Lovejoy, Kette 1993, Kondylis, Aufklärung 1986, Stockinger, Auseinandersetzung 1994, S. 95–97.
[9] Vgl. die Aufzeichnungen »Über die mögliche Mythologie (Freyes Fabelthum) des Xstenthums, und seine Verwandlungen auf Erden« (III,666:604) und »In den Evangelien liegen die Grundzüge künftiger und höherer Evangelien« (III,669:609).
[10] Auf eine Darlegung der sehr langen Vorgeschichte dieses Begriffs wird hier ebenso verzichtet wie auf Ausführungen zu den Veränderungen nach 1800. Aus der Fülle der einschlägigen Literatur vgl. dazu Schmale, Geschichte 2001 und die Einleitung des Herausgebers in Lützeler, Europa 1982, S. 9–53.
[11] Schlegel, Reise 1803, S. 39.
[12] Luhmann, Weltzeit 1976, S. 370.
[13] Schlegel, Bemerkungen 1958, S. 17 f. – Die Allgemeinen Bemerkungen über Europa sind Teil der in Köln und Paris gehaltenen Vorlesungen zur »Geschichte der europäischen Literatur« (1803/04). Schlegel grenzt hier Europa von Asien ab. Dass andere Kontinente so gut wie nicht berücksichtigt werden, liegt an der Zentralstellung von Kunst und Literatur: Sie sind, nach Schlegels Meinung und Kenntnisstand, in nennenswerter Weise nur in Europa und Asien entwickelt, aber nicht in Amerika und Afrika. – Die von Friedrich Schlegel herausgegebene Zeitschrift Europa wäre eine gesonderte Betrachtung wert. Sie wird ihrem Titel nicht gerecht, und obwohl der Universalismus und Kosmopolitismus der Frühromantik nicht verschwinden, vertritt Friedrich Schlegel deutlich die Auffassung von einer (wünschenswerten) kulturellen und politischen Dominanz Deutschlands.
ZITIEREMPFEHLUNG
Herbert Uerlings , »Eine freie Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen«. Friedrich von Hardenbergs (Novalis) Europa-Rede, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 46–59.
URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.
URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.
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