Erzwungenes und selbstgewähltes Exil – die Kultivierung des Exilantentums und seine Auswirkungen auf Theologie und Gesellschaft
Das Projekt setzte bei der Forschungshypothese an, dass die Exilerfahrung in den sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts konfessionell lutherisch konsolidierenden Gruppen in charakteristischer Weise theologisch aufbereitet und überhöht wurde. Dies zeigt sich vor allem in der ab 1548 in Druckschriften auftauchenden Selbstbezeichnung »Exul« oder »Exul Christi«, die zu einem regelrechten Ehrentitel von Vertretern einer bestimmten lutherischen Theologie heranwachsen konnte. Das Exil bzw. die Exilerfahrung wurde zur Legitimierung der eigenen Lehre und daraus sich ableitenden Handlungsoptionen instrumentalisiert und gezielt eingesetzt. Abgrenzung von als falsch angesehenen theologischen Positionen vollzog man also nicht nur »via negativa«, d.h. über Abgrenzung, Polemik und Verwerfungen, sondern auch »via positiva«: d.h. das erduldete Exil wurde als Beleg für die eigene »Orthodoxie« gegenüber der – vermeintlichen – Irrgläubigkeit der Mehrheit stark gemacht. Das Exil selbst erwies sich weniger als Gruppenphänomen als vielmehr als Erfahrung einer Funktionselite. Vertreibung und Exil waren deshalb u.U. nicht nur Auswirkungen von Zwang und Gewalt, sondern konnten durch oppositionelles Verhalten, vor allem gegenüber der Obrigkeit, auch provoziert werden. Von daher wird verständlich, dass Migrationswege lutherischer Exilanten oft auch an ihren Ausgangspunkt wieder zurückführten, sofern sich dies einrichten ließ.Um diese Forschungshypothesen zu verifizieren, beschäftigte sich Vera von der Osten-Sacken damit, jene Quellen zu analysieren, in denen das Konzept des »Exul Christi« eine Rolle spielte: Streitschriften, theologische Theoriebildung, auf Legitimation der eigenen theologischen Position zielende Erfahrungsberichte, Briefe und Trostschriften. Im Zuge dessen konnten ca. 500 Personen ermittelt werden, die häufig mehrfach exiliert wurden bzw. freiwillig migrierten, und die sich in ihrer Selbstbezeichnung in die Gruppe der lutherischen Exulanten einreihten. Betrachtet man den Ablauf der Exile der Lutheraner, so wird deren eigenes migrationsgeschichtliches Profil deutlich, das stark von den zeitgleichen Exilen im reformierten Bereich abweicht: Die lutherischen Exulanten waren eine vergleichsweise kleine, jedoch fast ausschließlich aus Theologen zusammengesetzte Gruppe. Sie waren publizistisch höchst aktiv und häufig in gesellschaftlich einflussreichen Kreisen präsent. Ihre Zugehörigkeit zu einer mobilen akademischen Bildungselite, die bereits zum Bildungserwerb Ortswechsel auf sich nahm, erleichterte ihnen die Integration in ein neues Umfeld. Sie schufen grenzübergreifende Allianzen und Netzwerke mit Gleichgesinnten und gestalteten durch ihre Schriften einen gemeinsamen literarischen Raum. Nur selten mündeten die Migrationen in Dauerexile. Meist bewegten sich die »Exules« »zirkulär«; viele erlebten Sekundärmigrationen oder mehrstufige Exulantenkarrieren, kehrten aber, wenn es möglich war, schließlich an ihre Ausgangsorte zurück. Es handelte sich also um eine eigene Migrationsform, für die die Zuflucht an einem Zielort nur eine untergeordnete Bedeutung hatte. Neben der Flucht vor konfessionspolitischen Zwängen waren die Exile der Lutheraner, besonders nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, oft Resultat innerprotestantischer, sogar innerlutherischer Konflikte mit Obrigkeiten, die zu Amtsenthebungen und Vertreibungen führten. Tonangebend blieben dabei aber die religiösen Motive.
Wesentlich für die Charakteristik dieser Exile ist ihre theologische Deutung und positive Stilisierung als Martyrium. Im Kontext des Widerstands gegen die Einführung des Interims bildete sich die Vorstellung von einem Bekennertum heraus, das sich sichtbar und vernehmbar zu äußern habe. Landesverweis und Amtsenthebung erduldeten die Bekenner und »Exules« als hinzunehmende Aktion gottloser Obrigkeiten angesichts der endzeitlich zu erwartenden Konfrontation von Gut und Böse und als Beleg der eigenen Rechtgläubigkeit. Die »Exules« sahen sich in der Verantwortung für die Verbreitung und Einhaltung der Lehre Christi und Luthers. Ihre eigenen Exile deuteten sie als göttliche Prüfungen und Gelegenheiten zum Zeugnisgeben, was die eigene Erwählung und damit die Wahrhaftigkeit der eigenen Lehre bestätigte. Man grenzte sich daher ab gegen »falsche« Exile, gegen Ausweisungen als Strafmaßnahme für Verbrechen oder gegen die Flucht aus Sorge um den eigenen Vorteil etc.
Der Fokus der Studie von Carsten Brall lag auf dem Zusammenhang von Migration bzw. Exil und Konfessionsbildung, d.h. der Formierung einer deutlich konfessionell ausgerichteten Theologie. Sie nahm die lutherische Gemeinde in Antwerpen in den Blick, d.h. in einer Stadt, in der die Mehrheit der Evangelischen dem Calvinismus zuneigte. Der Untersuchungszeitraum war die Phase von 1566 bis 1585 / 1600, beginnend mit der Gründung der ersten Antwerpener Gemeinde Augsburger Konfession und endend mit deren endgültiger Ausweisung im Jahre 1585, auf die bis zum Jahre 1600 verschiedene weitere Wanderungs- und Ansiedlungsprozesse folgten. Von Antwerpen aus musste – anders als bei den lutherischen Exulanten im Reich – eine gesamte Gemeinde mehrfach ins Exil gehen. Die Exilerfahrungen calvinistischer Gemeinden in Europa finden hier sozusagen ihr lutherisches Gegenstück. Zugleich pflegten lutherische Theologen aus dem Reich – oft mit vergleichbaren Erfahrungen – Verbindungen zur Antwerpener Gemeinde. Sie ihrerseits suchte diese Kontakte, um sich bekenntnismäßig und strukturell in einem anderskonfessionellen Umfeld zu formieren, zu konsolidieren und abzugrenzen.
Es waren vor allem der im Reich stets aufs Neue vertriebene Matthias Flacius Illyricus, Cyriakus Spangenberg aus Mansfeld und Hermann Hamelmann aus Lemgo, die die Entwicklungen in der Antwerpener Gemeinde Augsburger Konfession entscheidend prägten. 1567 wurde die Gemeinde, die inzwischen über ein eigenes Bekenntnis und eine eigene Kirchenordnung verfügte, aus Antwerpen ausgewiesen. Zahlreiche Gemeindeglieder siedelten sich nun vornehmlich in Städten des niederrheinischen Raums, teilweise aber auch in den nördlichen Niederlanden an und bildeten dort eigenständige lutherische Gemeinden. Wie bei den Exilierungen calvinistischer Gemeinden war die Wahl der Städte, die man um Asyl ansuchte, häufig von wirtschaftlichen Erwägungen beeinflusst. Aachen, Köln und Frankfurt a.M. waren die Hauptanlaufstellen. Die Migranten brachten dabei, auch hierin den calvinistischen Exilgemeinden ähnlich, ihre konfessionelle Ausrichtung mit in die verschiedenen, Aufnahme gewährenden Städte.
Etwa zehn Jahre nach dem ersten Exil kam es in Antwerpen zu einem erneuten Aufblühen der lutherischen Gemeinde (ca. 1577–1585), nachdem sie 1578 in der Stadt neu gegründet worden war. Zwar sah sie sich einerseits deutlich in der Tradition der frühen Gemeinde Augsburger Konfession, hatte andererseits aber zugleich theologische Entwicklungen durchgemacht. Die streng konfrontative Linie, wie sie etwa bei Flacius und Spangenberg zu finden war, fand in der neu gegründeten Gemeinde wenig Anklang. Größere Bedeutung gewannen gemäßigtere Theologen wie Martin Chemnitz. Diese theologische Ausrichtung spiegelt sich auch in der Besetzung der Predigerstellen der Gemeinde wieder. »Radikalere« Stimmen konnten, wenn überhaupt, nur kurze Zeit in der Stadt wirken.
Beteiligt waren: Irene Dingel, Carsten Brall und Vera von der Osten-Sacken